Tagebuch 11. Oktober 2015 – MK

Morgens entspannt neben F. aufgewacht und mich mal wieder darüber gefreut. Der Herr brach allerdings recht zeitig auf, weil er mir einen großen Gefallen tun wollte.

Ich hatte eine Kiste Crémant in meine Packstation um die Ecke bestellt. Selbst wenn die Kiste nicht ordentlich in meinen Gepäckträger passen sollte, ist die Packstation so nahe zu meiner Haustür, dass ich die Kiste unordentlich, also schräg, in den Gepäckträger packen und mein Fahrrad nach Hause schieben könnte, damit das herrliche Gut nicht runterfällt und kaputtgeht. Aber: Die Kiste landete nicht in dieser, sondern in einer weiter entfernten Packstation, und weil F. mich und meine Puddingärmchen plus memmigen Rücken kennt (der tut seit Jahren nicht mehr weh, aber ich tue auch alles dafür, dass er das eben nicht mehr macht und dazu gehört auch, keine verdammten Sektkisten zu schleppen), wollte er sich mal eben flugs in Bus und Tram setzen und die Kiste holen.

Wer in München wohnt, weiß, was gestern war: Marathon. Und natürlich führte die Strecke quasi genau an der Packstation vorbei. Das merkte F. allerdings erst, als er in der Tram saß, die warten musste. Der gute Mann war über eine Stunde unterwegs, bis er wieder bei mir war (höchst genervt). Und das Sahnehäubchen: In der Packstation war keine schwere Kiste Alkohol, sondern eine luftig-leichte Kiste Tee, von der die Versandbestätigung drei Tage nach der des Crémant kam und mit der ich deswegen noch gar nicht gerechnet hatte.

Als Entschädigung kochte ich mal eben drei Gänge zum Mittag, entkorkte einen anständigen Roten und schmiss ne Runde Espresso.

Abends gingen wir in die Kammerspiele und sahen Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2. Das Stück ist eine Art dokumentarische Performance, die nicht von Schauspieler_innen, sondern von Laien ausgeführt wird. Auf der Bühne versammelten sich mehrere Anwält_innen, darunter ein jüdischer, in Tel Aviv geboren, in den USA aufgewachsen, ein Buchrestaurator aus Weimar, ein Musiker mit türkischen Vorfahren und ein blinder Redakteur. Sie alle erzählen von ihren Erfahrungen mit dem Buch.

Die Anwältin Sibylla Flügge las das Buch erstmals 1965 als Jugendliche. Und weil sie noch ein Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern suchte, fasste sie das Buch zusammen, tippte es ab, band es hübsch ein und verschenkte es: „Mein Kampf von Adolf Hitler. Gekürzt von Sibylla Flügge.“ Die junge Anwältin Anna Gilsbach fragte per Brief bei der deutschen Antarktisstation nach, ob das Buch dort in der Bibliothek zu lesen sei. Der blinde Redakteur konnte mit dem Symbol auf der Braille-Ausgabe zunächst nichts anfangen, er wusste schlicht nicht, wie ein Hakenkreuz aussieht. Für ihn hat das Buch hingegen einen Klang, den die Akteur_innen im Laufe des Stücks nachzubilden versuchten.

Als ich gestern aus dem Theater kam, wusste ich noch nicht so recht, was ich davon halten sollte. Mittendrin kam mir der Vergleich „Das ist ein bisschen so, als ob man zuhört, wie jemand einen Wikipedia-Artikel vorliest“, weil im Stück viele Fakten und Daten zum Werk präsentiert werden, es wurden Ausschnitte vorgelesen und aufs Bühnenbild projiziert, wir bekamen diverse Ausgaben aus der ganzen Welt gezeigt, und wir lernten, dass das Buch als antiquarische Ausgabe nicht verfassungswidrig ist, denn die Verfassung der Bundesrepublik existierte ja noch gar, als das Buch gedruckt wurde.

Die ganzen Fakten wurden aber von den persönlichen Geschichten zusammengehalten, wie eben die skurrile von Flügge oder auch die fast schon obsessive von Alon Kraus, dem jüdischen Anwalt. Er las das Buch zunächst auf Englisch, dann auf Hebräisch, schließlich auf Deutsch, und er meint, es gehört zu den wichtigsten Büchern überhaupt, es müsse gelesen werden. Dem gegenüber steht die deutlich weiter verbreitete Meinung, dass das Buch Schrott sei und ignoriert werden darf. Grund für die theatralische Auseinandersetzung mit dem Werk ist das am 1. Januar 2016 auslaufende Urheberrecht. Seit Jahren arbeiten Historiker_innen an einer kommentierten Fassung, auf die ich persönlich sehr gespannt bin.

Ich habe das Buch vor sehr langer Zeit mal angefangen, bin aber nicht über ungefähr 80 Seiten hinweggekommen. Ich glaube auch nicht, dass das Buch ignoriert werden sollte, denn es ist ein wichtiger Quellentext. Im Stück bekamen wir auch Ausschnitte aus einer Knesset-Debatte präsentiert, als es um die hebräische Ausgabe ging. Auch dort reichte das Meinungsspektrum von „Verbieten“ über „Ignorieren“ bis zu „Wissenschaftlich aufarbeiten und zugängig machen“. Ein Geschichtsprofessor aus Tel Aviv (?, weiß ich nicht mehr genau) erzählte, wie schwierig es anfangs in Israel war, an diesen Text zu kommen, so dass schließlich Teile selbst übersetzt und weitergereicht wurden, weil es keine offizielle Ausgabe gab.

Das ganze Stück rannte in für mich derzeit weit offene Türen. Mein Interesse an der Kunst des Nationalsozialismus ist gerade sehr groß, und ich weiß, dass noch lange nicht alles kunsthistorisch aufgearbeitet ist, was zwischen 1933 und 1945 produziert wurde. Die Argumente sind ähnlich wie die im Umgang mit Hitlers Buch: „Das ist Schmuddelkram, das braucht keiner mehr, das ignorieren wir einfach weg.“ Was ich für einen Fehler halte. Ich würde gerne mal NS-Kunst auf Bezüge zu Mein Kampf untersuchen; das müsste ja, bei einer Verbreitung von 12 Millionen Exemplaren, wie ich gestern gelernt habe, doch ein halbwegs bekannter Text gewesen sein, der sich vermutlich auch in der Ikonografie niedergeschlagen hat. Man könnte die NS-Kunst genauso brav auf schriftliche Quellen abklopfen, wie die Kunstgeschichte das seit 200 Jahren mit Bibelstellen in christlicher Kunst gemacht hat. (Wobei es sicher noch schlauere Rangehensweisen gibt, aber das wäre halt eine.)

Ich fand das Stück sehr interessant, auch wenn es ein bisschen Mühe kostet, sich in das, vorsichtig ausgedrückt, Laienschauspiel einzuhören. Was mir überhaupt nicht gefallen hat, waren die kurzen Schlenker zum Linksterrorismus sowie zu Hitlers Geburtshaus in Braunau. Das war für mich Zeitschinden und ging mir zu weit vom Buch weg. Denn der Rest des Abends beschäftigte sich wirklich nur mit dem Inhalt und den Auswirkungen dieses Werks. Eine hübsche Idee war, das Buch mal eben aus dem Internet zu laden und auszudrucken, wobei Gilsbach nicht müde wurde zu betonen, dass das gerade Urheberrechtsverletzung sei. Aber mit dem Ausdruck war es nicht getan: Buchrestaurator Hageböck fertigte aus dem Ausdruck flugs ein gebundenes Buch – das er dann an einen Gast im Publikum reichte, gleich mit Leselicht. Auch das ist laut Strafgesetzbuch schon grenzwertig, denn wer weiß, wer der Gast in Reihe 3, Platz 4 war und wie er auf diese Schrift reagierte. Die Verteilung zum Zweck der Volksverhetzung ist strafbar, die zu historischen Studien nicht.

Die Truppe führte vor der gestrigen Premiere ein kleines Experiment durch: Sie gaben sich selbst zwei Stunden Zeit und 120 Euro Budget, um ein Mein Kampf in München aufzutreiben. Ich verrate nicht, ob sie Erfolg hatten, dafür müsst ihr schon selbst in die Kammerspiele gehen, was ich euch sehr ans Herz legen möchte.

Ich schrieb oben, dass ich nach Stückende noch nicht so recht wusste, was ich davon halten sollte. Aber: Direkt danach diskutierten F. und ich darüber, und auch heute morgen war das unser erstes Gesprächsthema. Es werden einem viele Brocken hingeworfen, die einen beschäftigen, und wo ich gestern dachte, naja, das war halt ein buntes Potpourri und nu? denke ich heute: Da ist eine Menge Zeug, aus dem ich was machen kann.

Die erste Reaktion heute morgen war, mal im OPAC zu gucken, ob wir das Buch eigentlich in der Uni-Bibliothek haben. Haben wir – in diversen Ausführungen, in verschiedenen Zweigstellen, größtenteils als Originalausgaben von vor 1945. Und die stehen offen rum, zum Beispiel im Historicum, und nicht im Giftschrank. Die Stabi hatte, laut Performance, mal 300 Exemplare, aber jetzt sind nur noch gut 70 vorhanden, die man auch nur im Lesesaal lesen und nicht ausleihen darf.

Das Kürzel MK im Titel dieses Eintrags ist von Gilsbach entliehen, die ihre E-Book-Version nur unter diesen zwei Buchstaben auf ihrem Smartphone gespeichert hat. Im Stück kam auch die Frage auf: Würdet ihr euch mit diesem Buch ins Café setzen und es offen lesen, was Raunen im Publikum hervorrief. Darüber denke ich auch seit gestern nach: Ich würde es runterladen oder kaufen. Ich würde es lesen. Aber ich hätte ein komisches Gefühl dabei, es in der Öffentlichkeit zu tun.

Auch deswegen noch mal der Schlenker zur Kunst bzw. zur #GegenKunst, die gerade in der Pinakothek der Moderne zu sehen ist. Nichts entmystifiziert diesen Kram mehr als eine direkte, persönliche Auseinandersetzung damit. Guckt euch diese Bilder an, lest das Buch. Und geht ins Theater.