Zen

Diese Woche war die letzte Vorlesungswoche im Sommersemester. Am Mittwoch schrieb ich eine Klausur in meinem Mittelalter-Basiskurs in Geschichte und durfte befriedigt feststellen, dass ich alle Einzelteile einer Königsurkunde runterbeten kann – bis zu den tironischen Noten. Gestern standen die beiden restlichen Klausuren an, einmal in der Vorlesung über die Geschichte der Porträtfotografie und dann eine über karolingische Kunst. Vorher hatte ich noch die letzte Sitzung im Seminar zur Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts, und zum Abschluss des Tages hatte unser Dozent des Kurses über bayerische Klöster seit der Karolingerzeit uns angeboten, das Semester in einer Kirche zu beenden anstatt im Unterrichtsraum, was wir natürlich gerne wahrgenommen haben.

Das Seminar zur Mediengeschichte hat sehr viel Spaß gemacht, aber gestern hörte ich leider zwei eher nervige Referate, was mich etwas verstimmte, denn die Themen wären toll gewesen – wie alle Themen, weswegen das Seminar auch so viel Spaß gemacht hat (für mein Referat über die Gartenlaube hatte ich eine 1,0 bekommen – die gleiche Note, die ich auch in meinen Referaten zu Frauenwörth oder Grimald von St. Gallen bekommen habe. Stolzer Smiley). Gestern ging es um koloniale Presse, genauer gesagt, die englische in Indien und Afrika, und hier vor allem um Flora Shaw. Ich konnte beiden Referentinnen nur sehr schwer zuhören, weil sie sich, für meine Begriffe, ewig an Zeug aufhielten, das kaum was mit dem Thema zu tun hatte oder es viel zu lang vorbereitete. Vielleicht war ich auch im Kopf schon bei den beiden Klausuren, für die ich weitaus weniger gelernt hatte als für alle bisherigen Klausuren. Nicht weil ich keine Lust hatte (oder die WM und das Filmfest dazwischen kamen), sondern weil ich kaum was lernen musste. Vieles, was ich auf den Folien fand und wie üblich auf Vokabelkarten übertrug, hatte ich mir sowieso gemerkt oder wusste es beim ersten Lerndurchgang. Wo ich im letzten Semester (in dem ich allerdings fünf Klausuren hatte) bis zur letzten Minute panisch gelernt hatte, konnte ich Mittwoch abend äußerst entspannt ein Fußballspiel gucken, weil ich mich sehr gut vorbereitet fühlte. Trotzdem war ich natürlich hibbelig, wie immer vor Klausuren, und vielleicht hatten die Damen vorne es daher schwerer als sonst, mich zu erreichen.

Nach zwei Stunden wechselte ich vom Historischen Seminar ins Hauptgebäude der LMU, stellte mich in die Schlange der Studis bei den Hiwis, die Studienausweise mit ihrer langen Liste verglichen, denn in der Porträtklausur saßen gefühlt 100 Leute. Ich war relativ früh da, damit ich mir einen Platz ganz außen in den Stuhlreihen sichern konnte, denn nach drei Semestern weiß ich inzwischen, dass ich fast immer als erste fertig bin. Und anstatt ewig auf die Mädels neben mir zu warten, kann ich so leise und ohne jemanden zu stören nach zehn Minuten abgeben und mich rausschleichen.

So war es auch dieses Mal: Ich musste bei keiner Frage wirklich überlegen, alle Namen fielen mir ein, alle Daten waren da, alle offenen Fragen schrieben sich wie von selbst – und da war der erste Zen-Moment des Tages. Das Gefühl, etwas zu wissen bzw. ziemlich viel zu wissen, hatte ich während einer Klausur hier das erste Mal. Es fühlte sich anders an als die Einzelteile von Königsurkunden zu kennen, denn die waren in diesem Semester ganz neu für mich, die hatte ich mir mühevoll in den Kopf geklopft. Aber zum Beispiel Literatur von Hans Belting, Walter Benjamin und Roland Barthes hatte ich schon früher kennengelernt, weswegen ich sie nicht mehr großartig lernen musste. Ich hatte mich schon mit einigen der KünstlerInnen befasst, die in diesem Semester drankamen, und alle, die ich neu lernte, klickten einfach so in die Lücken zwischen denen, die ich schon kannte, weswegen ich mich dafür auch nicht mehr großartig anstrengen musste. Und so saß ich im Riesenhörsaal, schrieb, kreuzte an, dachte kaum darüber nach, hielt nur einmal kurz inne, um diesen Zen-Moment zu bemerken, gab ab und ging raus.

Jogurt essen, aus dem Fenster gucken, noch mal die Vokabelkarten mit der karolingischen Kunst durchgehen, eBook auf dem iPad lesen, das überhaupt nichts mit Kunstgeschichte zu tun hat, Wasser trinken, noch mal die Vokabelkarten durchgehen, und dann war die Zeit rum, um zur nächsten Klausur zu gehen. Über Quantenphysik. (Sorry. Ich wollte nur gucken, ob ihr noch da seid.)

Eben waren wir 100, jetzt waren wir neun Studis, die sich im Hörsaal verliefen. Ausweise kontrollieren, Klausurbögen bekommen, umdrehen, Name und Immatrikulationsnummer aufschreiben, „BA Kunstgeschichte HF“ unterstreichen, Fragen durchlesen – und bei der letzten sehr stocken. Was ist der Einhardsbogen und woher kennen wir ihn? Gute Frage. Was zum Teufel ist der Einhardsbogen? Mein Gehirn wühlte im Geiste mein Notizbuch der letzten Sitzung durch, in der wir über diesen Bogen gesprochen hatten (immerhin das wusste ich noch), aber sonst konnte mein Hirn nichts finden. Erstmal die anderen Fragen, bei denen ich auch merkte, dass ich dieses Mal anscheinend das Falsche gelernt hatte. Ich hätte super erklären können, was die Admonitio generalis war oder was so toll an der Lorscher Torhalle ist oder worin sich die Hofschule von der Palastschule unterscheidet (und natürlich kam Einhard dran), aber ein, zwei Fragen ließen mich sehr ratlos zurück – woher kommt der Name des Godescalc-Evangelistars? Und was ist jetzt dieser verdammte Einhardsbogen? Ich konnte mich nicht mal daran erinnern, ob er Teil eines Gebäudes oder eines Kunstwerks oder einer Buchmalerei war. Kompletter Blackout. So viel zum Zen-Moment, in dem alles klickt und klackt und ich Susi Superschlau bin.

Aber anstatt wie sonst mit mir und meinen dusseligen Ansprüchen zu hadern, ließ ich die Felder weiß, die ich nicht wusste und gab ebenfalls nach wenigen Minuten ab – im Bewusstsein bestanden zu haben, wenn es auch kaum für eine 1 reichen wird. Das wurmte mich zwar, aber ich war kurzfristig wieder im Zen – das Semester ist rum, das war’s mit Klausuren, die außerdem in Kunstgeschichte nicht benotet sind, im Transcript of Records steht nur „bestanden“, es ist völlig egal, ob ich alles weiß … also theoretisch, ich will natürlich alles wissen, aber anscheinend weiß ich’s eben nicht, und vielleicht komme ich langsam in das Alter, in dem ich das hinnehmen kann.

Nein, komme ich nicht, denn natürlich war der Zen-Moment nur kurz. Ich habe noch direkt vor dem Hörsaal gegoogelt, was der Einhardsbogen ist und ich werde es nie wieder vergessen, genau wie ich das Wort praecipitare nie wieder vergessen habe, das mir in der zehnten Klasse in einer Lateinklausur nicht mehr einfiel.

Wie schon nach der ersten Klausur hatte ich nun anderthalb Stunden Zeit bis zum nächsten Termin. Ich schnappte mir mein Fahrrad und radelte entspannt meine geliebte Ludwigstraße entlang, stellte mein Rad am Marienhof ab und schlenderte am Dom vorbei zu St. Michael, wo wir uns nachher treffen wollten. Ich huschte einmal quer durch die Kirche und guckte, damit ich nachher nicht alles zum ersten Mal sah, entdeckte Engel mit den Marterwerkzeugen, erkannte zwei Evangelisten (die anderen zwei sind wirklich nicht da, was auch unseren Dozenten latent verwirrte) und immerhin zwei Jünger (Petrus (Schlüssel) und Andreas (Kreuz), alle anderen habe ich mir immer noch nicht gemerkt), bewunderte den Reliquienschrein und guckte mir in Ruhe die Fassade an. Immer noch eine Stunde Zeit. Ein kurzer Gedanke an Kaffee, aber da erinnerte ich mich, an einer Augustiner Gaststätte vorbeigekommen zu sein, und genau dahin ging ich dann auch. Ich sah anscheinend aus wie ein Touristin (Hoodie, Sneakers, Rucksack), jedenfalls sprach mich der Mensch am Empfang auf englisch an, was ich mit „Servus“ beantwortete und um einen Platz bat. Ich wurde platziert, bestellte ein Bier, wie sich’s gehört und las weiter im eBook.

Die Klausuren waren durch, das Buch leidlich spannend, ich roch die gute bayerische Küche um mich herum, hörte den vielen Sprachen zu, genoss mein Bier – und war wieder im Zen. Wieder ein Semester rum (bis auf die Hausarbeiten, aber die sind ja immer mein Sahnehäubchen, auf das ich mich von Anfang an freue), nur noch ein einziges Semester mit richtigen Kursen und dann kommt schon das sechste, in dem ich die Bachelorarbeit schreibe, nur noch wenige Monate, fast fertig, wie ist das denn passiert, wo ist die Zeit hin? Ich genoss es plötzlich sehr, alleine irgendwo zu sitzen, was ich in München sehr selten mache, wo ich höchstens alleine in Museen gehe, aber sonst bin ich fast immer in Gesellschaft. Jetzt nicht, jetzt trank ich ein Bier alleine, vor mir ein Buch, hinter mir die Arbeit, noch eine Kirche und ein paar kunsthistorische Überlegungen auf dem Programm, aber im Prinzip war ich gerade frei wie ein Vogel, und das war ein grandioses Gefühl.

Eine Touristin blieb neben meinem Tisch stehen und fotografierte die Speisekarte, was ich nur aus den Augenwinkeln registrierte, weil ich las und trank und mich ganz großartig fühlte. Sie sagte „Merci, madame“, und ohne zu überlegen, antwortete ich „de rien“ und blickte nicht mal auf. Sie lachte und sprach mich an, und erst in dem Moment fiel mir auf, dass ich französisch gesprochen hatte und musste gestehen: “That’s about all the French I know.” Sie lachte wieder und redete weiter, ich glaube, irgendwo war ein „au revoir“ drin, aber das mag ich mir eingebildet haben. Und jetzt wollte ich nicht mehr lesen oder trinken, jetzt wollte ich nur da sitzen und den Moment festhalten, in dem alles gut war, ich, allein, in einer Stadt, die mir sehr ans Herz gewachsen ist, mit so viel neuem Zeug im Kopf, so viel altem, das wieder hochkommt und noch so viel mehr, das da reinpasst. Das wollte ich festhalten. Und das habe ich dann gemacht.