Ein Jahr nach der Immatrikulation

Heute vor einem Jahr habe ich mich in München an der LMU immatrikuliert. (Wer erinnert sich nicht gerne an diese Odyssee? ICH!) Vieles von dem, was ich mir durch das Studium erhofft hatte, ist eingetreten, einiges ist nicht so, wie ich es erwartet habe, manches ist toll, manches weniger. Aber alles ist anders.

Was ich wollte: den Kopf in eine andere Richtung anstrengen. Mal über was anderes nachdenken als darüber, wie man Produkte an Menschen vertickt. Drei Jahre wissenschaftlich statt verkäuferisch arbeiten und dann wieder zurück in die Agentur, schönes Geld verdienen. Einen kurzen Abstecher in eine andere Stadt – ich erinnere mich an das Selbstgespräch „Wenn ich mein Leben schon ändere, dann gleich richtig“ – und dann wieder zurück nach Hamburg, wo mein Zuhause ist.

Was daraus geworden ist: nun ja.

Das mit dem Kopf-Anstrengen hat perfekt geklappt. Ich denke seit einem Jahr über kaum so viel nach wie über Bilder und Skulpturen, Künstler und (viel zu wenige) Künstlerinnen, Kunsthistoriker und (viel zu wenige) Kunsthistorikerinnen, kunsthistorische Texte, Analysen, Bildbeschreibungen, ich hänge in Museen rum, habe mich in die Bibliothek am Institut für Kunstwissenschaften verliebt und lese auch in meiner Freizeit wissenschaftliche Texte. Wenn ich online über Texte zu Bildern stolpere, vergesse ich, dass ich bloß ne Runde Candy Crush spielen wollte und verliere mich stattdessen in kunsthistorischen Diskussionen, die vor 100 Jahren geführt wurden. Ich sehe Bilder anders, ich bekomme ganz langsam einen Eindruck von der Geschichte der europäischen Kunst in den letzten Jahrhunderten, ich fange an, die moderne Kunst nicht nur zu würdigen, sondern auch zu mögen, ich habe jeden Tag eine neue Lieblingsepoche und einen neuen Lieblingskünstler (noch keine Künstlerin, aber das wird kommen) und ich gucke jeden Altbau, jede Kirche und jede Brücke, an der ich vorbeikomme, nach architektonischen Gesetzmäßigkeiten an. Kurz gesagt: ja. Alles super, was diesen Bereich angeht, danke der Nachfrage.

Das Dumme ist, dass das alles zu super ist. Ich will mit diesem Kopf-Anstrengen nicht in zwei Jahren aufhören, wenn meine Bachelorarbeit getippt ist. Der unbeeindruckte Weg zurück an den Agenturschreibtisch scheint vorerst für mich verbaut zu sein. Danke, Kunst, du olle Hippe. Danke, LMU, mit deinen schönen Räumen und tollen Lehrkräften. Das habt ihr fein hingekriegt.

Momentan ist der Aufenthalt im Home Office, in dem ich nach einem Semester bewusster Auszeit von der Werbung wieder Verkoofe mache, eine reine Pflichtübung. Klar gab es auch zu den Zeiten, in denen ich meinen Lebenssinn in Reklame gesehen habe, Jobs, die ich einfach weggearbeitet habe. Zurzeit ist es aber jeder Job, den ich annehme. Ich mache das gut, sonst würde mich niemand mehr buchen, und ich besitze genug Selbstdisziplin und Professionalität, um das nicht allzusehr raushängen zu lassen, dieses Gefühl, komplett unwichtigen Kram zu machen, während es doch eine Trilliarde Kunstwerke gibt, über die ich mich stattdessen informieren könnte. Aber ich ahne, dass dieses Gefühl der Pflichtübung nicht mehr weggehen wird, jetzt wo ich gesehen habe, wie grün das Gras da drüben in der Wissenschaft ist.

Deswegen denke ich seit Monaten darüber nach, wie ich meine Erfahrung im Marketing mit meinem neuen Wissen verbinden kann. Ein paar Ideen von ungewöhnlichen Audioguides bis zu Ausstellungskonzepten, von Social-Media-Kampagnen und Interaktionen mit dem geneigten Publikum sind durchaus da. Das Problem: Ich habe keine Ahnung, wovon ich rede, weil ich keine Ahnung davon habe, wie ein Museum funktioniert. Daher würde ich gerne mein werbisches Home Office gegen einen Job in der Marketingabteilung eines Museums tauschen. Und da kommen zwei weitere Probleme. Das eine: Erstmal muss ich eine freie Stelle ausbuddeln, die weiterhin zwei Mieten finanziert (ich ahne, dass das schwer werden wird). Das andere habe ich mir selber mit meinen zwei Städten gebastelt: Kein Museum in München stellt mich ein, wenn mein erster Satz ist „Aber in den Semesterferien bin ich in Hamburg.“ Dieser Fakt ist momentan nicht verhandelbar. Denn:

Meine zwei Aufenthaltsorte haben auch eine andere Baustelle in mein Leben geschleppt. Ich hätte nicht gedacht, wie gut es mir in München gefallen würde. Dass ich die Stadt mag, wusste ich vorher – ich war ja oft genug zum Fußballgucken da. Aber das waren immer nur zwei, drei Tage. Inzwischen weiß ich: Dieses tolle Urlaubsgefühl, das ich in zwei, drei Tagen habe, geht auch dann nicht weg, wenn es zwei, drei Wochen oder zwei, drei Monate und ne Menge Arbeit für die Uni sind. Die Stadt ist für mich mehr zuhause als es Hamburg jemals war. Was eigentlich toll ist – aber nicht, wenn man der Kerl ist und sich das dauernd anhören muss. Das jedenfalls hat mir der Herr des Hauses vor einigen Tagen gestanden. Meine erste Reaktion war natürlich aufplustern und „Wieso freust du dich nicht, wenn ich glücklich bin?“, bis ich einsehen musste: ja klar. Mir würde es genauso gehen, wenn er mir dauernd von, keine Ahnung, Leipzig vorschwärmen würde und wie gut’s ihm da geht und wieviele tolle neue Bekannte er hat und einen Lacrossestammtisch, der sich einmal im Monat zum Cidre-Trinken trifft, und eine Fachbibliothek mit tausenden von Büchern über Webdesign und Zeug, von dem ich keine Ahnung habe.

Ich hatte unterschätzt, wie es die Dynamik einer Beziehung verändert, wenn ein Teil sich nicht nur ein bisschen, sondern radikal weiterentwickelt und zwar in eine Richtung, in die der andere Teil nicht mal so eben mitkommen kann (oder will). Und ich hatte unterschätzt, wie komisch das ist, plötzlich alleine in einer Wohnung zu sein, in der sonst wir beide sind. Der Kerl ist neuerdings immer zwei Tage die Woche in Berlin, und an diesen beiden Tagen kommen mir unsere vier Zimmer viel zu groß vor und ich vermisse ihn mehr als ich ihn in München vermisse. Da renne ich nämlich meistens wild durch die Gegend, damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt, während es mir in Hamburg völlig reicht, mit einem Buch neben ihm auf dem Sofa zu sitzen, während er alle Sportsendungen dieser Welt guckt. Außerdem ist die Wohnung in München nur meine, nicht unsere. Er hat mich zwar schon besucht, aber das eine Zimmerchen ist nur meins. Da ist gar kein Platz für ihn, während mein Platz in Hamburg immer größer und leerer wird, wenn er alleine ist. Zusätzlich hat er nur den Alltag, während ich gefühlt Urlaub mache.

Das ist alles ein ziemlicher Klumpatsch in meinem eigentlich sehr zufriedenen Kopf, diese Mischung aus Heimweh nach einer Stadt, die gar nicht mein Heim sein sollte, der Ahnung, dass der Job der letzten 15 Jahre nicht mehr der der nächsten 15 sein wird, und dem Wunsch, aus dem Neugelernten mehr zu machen als das, als was es eigentlich geplant war, nämlich Zeitvertreib. Wie schön, dass ich noch zwei Jahre Zeit habe, diesen Brei gären zu lassen. Es bleibt spannend. Und das ist das einzige, was komplett so eingetroffen ist, wie ich es erhofft hatte.