Bayreuth 2012, „Der Fliegende Holländer“

Neben dem Parsifal, der mich fast genauso umgehauen hat wie beim ersten Mal, stand in diesem Jahr noch Der Fliegende Holländer auf dem Bayreuth-Programm meiner werten Frau Mama und mir. Im Vorfeld hatte ich eher mäßige bis miese Kritiken gelesen; direkt nach der Radioübertragung der Premiere sprach eine Kritikerin von „Rumstehtheater“ (ein wundervolles Wort). Ich war also nicht sonderlich enthusiastisch, was die Inszenierung anging, freute mich aber trotzdem sehr auf die Aufführung, denn der Holländer ist schon ein feines Stückchen romantischer Musik. Ich mag ihn sehr.

Die Story steht auf der Wikipedia, wenn Sie sich da mal kurz rüberbemühen würden? Und Bilder der Aufführung finden Sie hier oder ein bisschen größer hier.

Der Holländer bietet weitaus weniger Spielraum für die Interpretation als andere Wagner-Opern, denen man wunderbar wilde Gesellschaftsentwürfe überstülpen kann. Aber ein bisschen geht eben doch, um das Werk für heute relevant zu machen: zum Beispiel die Liebesgeschichte zwischen Senta und dem Holländer. Wobei man selbst die noch aufdröseln kann: Senta wird gerne als hysterisches Weib dargestellt, die sich für irgendeinen hergelaufenen Fredel opfert. Auch der Holländer selbst gibt gerne mal den Verfluchten, der für sowas Irdisches wie Zuneigung gar keine Zeit hat. Weitere Motive: die Geldgier Dalands. Untergeordnet (habe ich jedenfalls noch nie als Hauptmotiv irgendwo auf einer Bühne gesehen) die vergebene Liebe von Erik zu Senta, die ihm quasi sagt, he, lass uns Freunde bleiben, was verständlicherweise nicht so supi bei ihm ankommt. Auch mit der Natur könnte man was machen oder den verfluchten Seelen der holländischen Mannschaft. Regisseur Jan Philipp Gloger hat sich die Liebesgeschichte rausgepickt, und damit hatten viele Kritiken ein Problem, weil es so belanglos sei. Ich habe mich den ganzen Abend gefragt, wo bitteschön denn die Liebe belanglos ist, aber das mag meine persönliche Einstellung sein.

Das erste Bild spielt eigentlich in einer Bucht, in der Dalands Mannschaft anlegt und in der schließlich das Schiff des Holländers auftaucht. In Bayreuth sehen wir dagegen das Innere eines Rechners – Lichtblitze symbolisieren Datenströme, Zahlen rattern fast unaufhörlich nach oben, keine Atempause, die Kohle wird gemacht. Daland und der Steuermann sitzen in einem kleinen Ruderbötchen, das ich ein bisschen inkonsequent fand, denn es war die einzige maritime Andeutung im ganzen Stück. Einen Konferenzraum oder eine Flughafenlounge hätte ich stimmiger gefunden. Denn Daland ist ein Seniorchef, der Steuermann sein Kronprinz, was er unter anderem dadurch zeigt, dass er Dalands Gesten versucht zu imitieren, ihm ständig unterwürfig zustimmt und überhaupt den Speichellecker vor dem Herrn gibt. Benjamin Bruns hat mir außerordentlich gut gefallen; sein heller Tenor war strahlend klar und sein komödiantisches Timing hervorragend. Ich habe selten so viel in einer Wagner-Oper gelacht.

Die Firma, in der Daland und der Steuermann arbeiten, produziert ein großartiges Produkt: Ventilatoren, die auch noch einen großartigen Namen haben: N1-H1L oder: nihil (nichts). Die sehen wir im zweiten Akt, dessen Bühnenbild leider nicht an die Brillanz des ersten Akts rankommt. Es ist das Innere der Produktionsstätte, und die Mädchen, die eigentlich an Spinnrädern sitzen, verpacken hier im Gleichtakt die Ventilatoren. Ein Pärchen wickelt das Kabel auf, ein anderes klebt ein Siegel auf, die dritte Gruppe packt das Gerät in einen Karton, die vierte klebt diesen zu – und eine letzte Gruppe fährt die Kartons von der Bühne, während fast im gleichen Augenblick eine andere Gruppe Nachschub anliefert. Das ganze wirkt irritierend perfekt, alle haben ihre ewig gleichen Arbeitsschritte verinnerlicht, genau wie Daland und der Steuermann ihre kapitalistische Rolle nicht mehr hinterfragen, sondern sie besinnungslos ausfüllen.

Ganz anders der Holländer und sein verfluchtes Team: Sie sind schon gekennzeichnet vom ewigen Streben nach Gold, vom ewigen Hamsterrad. Ihre Haut ist durch schwarze Geschwüre verunstaltet; es sieht fast so aus, als ob ihre roboterhafte Seite, die keine Gefühle kennt, sondern nur das Geld, durch ihre menschliche Hülle durchbricht. Wenn sie nicht bald erlöst werden, werden sie an ihrer sinnlosen, unmenschlichen Arbeit zugrunde gehen.

Die Schätze, mit denen der Holländer Daland davon überzeugt, ihm seine Tochter zur Frau zu geben, sind in einem typischen Businesskaspertrolley, den er ständig mit sich führt. Und wo Daland, der Steuermann und die norwegische Mannschaft den Geschäftsquatsch total dufte finden und sich überbieten mit Beckerfäusten, Victory-Zeichen und dem albernen Kollegenabklatschen (körperlos umarmen, jeweils zweimal auf die Schulter klopfen, schnell wieder trennen, bevor es schwul aussieht), wirkt der Holländer die ganze Zeit nur gequält und verzweifelt. Er bewegt sich langsam statt stakkatoartig schnell wie die anderen, er lächelt nie, er versucht, seinen Arm aufzuritzen, um zu bluten und vielleicht so etwas zu spüren, was ihm im Businessalltag abhanden gekommen ist – erfolglos. Auch die Statistinnen, die ihn umschwirren – eine Sekretärin, eine Wellness-Tante, eine Prostituierte – können ihn nicht begeistern. Bis er Senta erblickt.

Diese hat inzwischen den fleißigen Bienchen ihre Ballade vorgesungen – und dabei sogar Mary erreicht, die in fast jeder Inszenierung sehr stiefmütterlich wegkommt. Natürlich gibt ihre Rolle das vor; sie ist die Aufpasserin und spinnt als einzige weiter, während die Mädels sich kurz ablenken lassen. Eine muss es ja machen, und wir haben schließlich ein Produkt zu verschiffen. Hier darf sie etwas ausbrechen: Eben noch mit streng zurückgekämmten Haaren und perfekt als Geschäftsfrau kostümiert, löst sie im Laufe der Ballade ihre Haare, nimmt ihre Brille ab und wagt es sogar, einen Knopf ihrer Bluse zu öffnen, so sinnlich und begeisternd erzählt Senta vom verfluchten Holländer, der die Treue einer Frau benötigt, um endlich sterben zu können.

Die Fabrik, in der sich alles abspielt, besteht aus einer Reihe Pappkartons, und es wird sehr simpel klargemacht, dass Senta nicht in diese Welt passt. Anstatt ihre Kartons als Verpackungsmaterial für ein Produkt zu nutzen, das zu nichts anderem nutze ist, Luft, Nichts, zu verwirbeln, hat sie sich aus Kartons eine kleine Burg gebaut, sich Flügel aus Pappe gebastelt, eine Holländerfigur (statt des eigentlich vorgesehenen Bildes, das sie ansingt), eine Fackel. Sie ist außerdem der einzige Farbklecks im gedeckten Businessgraublau mit ihrem leuchtend roten Kleid und den rot bemalten Accessoires. Das kann man alles albern und kindisch finden – mich hat es berührt, weil es eben so schlicht war.

Noch mehr berührt hat mich die Story zwischen dem Holländer und Senta. Die beiden dürfen sich bei ihrem ersten Treffen gerne dramatisch gegenüberstehen, und selbst in den Augenblicken, in denen Senta ihm Treue schwört und ihm damit ihre Liebe gesteht, gibt’s selten mehr als Händchenhalten, weil sich beide ja des großen Moments bewusst sind. Sehr geehrter Herr Holländer, ich biete Ihnen an, Sie zu erlösen – das ist nett, vielen Dank, sehr gerne. Hier wird stattdessen gelacht und geknutscht und sich gefreut, und der Funke zwischen den beiden ist bis zu den Zuschauern gesprungen. (Jedenfalls bis zu mir.) Das kann auch an der wundervollen Adrianne Pieczonka gelegen haben, deren Sopran für mich sehr modern klang, ich habe leider kein besseres Wort. Ihre Ballade war keine Ballade, sondern eine Liebeserklärung, ihr Duett war nicht hysterisch-schwelgerisch, sondern schlicht verliebt und glücklich. Und deswegen verzeihe ich der Inszenierung auch das Rumstehen, denn das taten die Figuren wirklich sehr oft – wenn sie nicht knutschten oder Ventilatoren verpackten oder sich mit Beckerfäusten aufputschten, noch mehr Geld zu machen.

Der Holländer wurde von Samuel Youn gesungen, der nur wenige Tage vor der Premiere einspringen musste. Er wirkte leider des Öfteren noch unbeweglicher als die anderen, aber ich ahne, dass das schlicht mit fehlender Probezeit zu tun hat. Stimmlich mag ich ihn sehr gerne, auch wenn ich mir bei ihm etwas mehr Drama, Baby! wünschen würde, was seine darstellerischen Qualitäten angeht.

Im dritten Akt kamen dann endlich die beiden Mannschaften mit meinem Lieblingschor aller Lieblingschöre; es gibt für mich keinen schöneren Opernmoment als diesen, wenn sich gefühlt 60 Männer und 30 Frauen aus voller Kehle ansingen. Die Mannschaft des Holländer war kurz schon im ersten Akt zu sehen, wo sie ein herrliches Gegenbild zu den Victory-Deppen in ihren hellgrauen Anzügen boten – sie tragen dunkle Anzüge, haben alle den obligatorischen Starbucks-Becher in der Hand und sehen äußert genervt aus. Hier tauchen sie ganz plötzlich aus dem Bühnenhintergrund auf und singen die Norweger richtig schön in Grund und Boden.

Natürlich ist Kapitalismuskritik keine ganz neue Idee, ich erinnere mich an eine Aufführung der Deutschen Oper in Berlin, wo quasi die gleiche Grundidee genutzt wurde und alles in einem herrlichen Schlussbild in einem Trading Room voller Nutten und Koks endete. Hier war diese Idee für mich aber eher die Tapete, im Vordergrund stand die Liebe zwischen Holländer und Senta, die hier netterweise mal wenig von aufopfern, leiden, erlösen hat, sondern schlicht sagt: Die beiden gehören zusammen, fertig. Trotzdem hat das Geschäft des letzte, sehr clevere Wort. Nachdem Senta sich umbringt, um den Holländer zu erlösen, vereinen sich die beiden für immer in einer innigen Umarmung. Der Vorhang fällt, das Orchester spielt die letzten Takte, wir haben alle was gelernt – da öffnet sich der Vorhang noch einmal, und wo eben das Plakat für den Ventilator N1-H1L hing, hängt nur eins, das den Holländer und Senta in ihrer letzten Pose zeigt. Darunter steht 3T3R-N4L, eternal (ewig), und auf ewig werden die beiden jetzt als Spieluhr (?) ihr Dasein fristen, während Daland weiter Geld zählt und der Steuermann seine Mannschaft anfeuert, noch schneller zu arbeiten.

Dem Rest des Publikums gefiel es anscheinend genau wie mir (wobei der Regisseur nur bei der Premiere auf die Bühne kommt, in der wir nicht saßen, weswegen er auch nicht ausgebuht werden konnte). Musikalisch war es wunderschön; ich kann mich bei Thielemann nie entscheiden, ob ich alles glattgebügelt-mainstreamig finde oder eben wunderschön. Dieses Mal war ich mir sicher: wunderschön. Straff und äußerst zügig durchdirigiert – wir waren nach gerade einmal 2.15 Stunden fertig –, aber trotzdem noch genug Zeit für die großen Balladen vom Holländer und von Senta. Dirigent und Orchester bekamen dann auch den verdienten Jubelsturm. Schade, dass die Musiker_innen nicht auch auf die Bühne kamen wie beim Parsifal (machen sie eigentlich nur bei der letzten Aufführung der Spielzeit), denn durch den verdeckten Orchestergraben sieht man sie eben gar nicht und kann sie nur stellvertretend durch den Dirigenten beklatschen. Wo ich so gerne persönlich allen Streicher_innen zu verstehen gegeben hätte, dass ich das Meer noch nie so haben tosen hören.