reinstoff

Kinnings. Ich hab ja keine Ahnung. Ich war noch nie in einem Sternerestaurant, und ich backe doch bloß Bienenstich und mach Gnocchi und mir fehlen die ganzen schicken Koch- und Fressvokabeln, die einem richtig guten Restaurant würdig sind. Aber. Meine Güte, habe ich gestern fantastisch gegessen.

Das reinstoff in Berlin-Mitte besitzt einen Michelin-Stern, ist schlicht-geschmackvoll eingerichtet und überraschend leise, obwohl die Tische recht nah beieinander stehen.

Ich war ein bisschen nervös – „Die kleine Anke traut sich zum ersten Mal in ein Sternerestaurant“ und hatte Flashbacks zu Julia Roberts „Pretty Woman“, wo sie Schnecken durch den ganzen Laden wirft –, aber das war alles völlig unbegründet. Das Personal fand ich extrem aufmerksam, sehr höflich und nie überkandidelt-doof, sondern stets bemüht, uns zu erzählen, was wir da gerade vor uns haben. Gerade die Weinbeschreibungen fand ich sehr hilfreich, denn sie gingen über das übliche Gerede von „fruchtigen Noten und Schiefer“ hinaus; stattdessen wurde uns etwas über das jeweilige Weingut erzählt und in welchem Holz der Wein gelegen hat. Nicht dass ich damit irgendetwas hätte anfangen können, weil mir einfach die Vergleiche fehlen, aber ein paar Dinge sind doch hängengeblieben und helfen mir vielleicht beim nächsten Besuch. Und nebenbei hätte ich in allen Weinen, die wir bekommen haben, baden wollen.

Frau Modeste verspätete sich etwas, daher gab es für Frau Elise, Herrn Knüwer und mich erstmal ein paar Kleinigkeiten in dreifacher Ausführung, während wir beim Nachtisch dann jeweils alles vierfach vor uns hatten. Der Beginn war: Ricotta und Maränenkaviar; Erdnussflip, Cornichon und Dukka; Entenleber und Vogelmiere; Wachtelei mit Paprikaschaum.

Wobei der kühle Ricotta in einem knusprigen Hörnchen eingehüllt war und der Kaviar einen frischen Tupfer gesetzt hat. Der Erdnussflip knirschte feinwürzig vor sich hin und war frisch statt funnyfrisch. Die milde Entenleber war eingehüllt in geeiste Vogelmiere, was zusammen einen fast süßlichen Geschmack ergab, und das Wachtelei war … ein leckeres Wachtelei mit Paprikageblubber, aber, wenn ich es richtig geschmeckt habe, winzigsten Speckwürfeln oder salzarmen Salzkristallen, keine Ahnung, auf jeden Fall war irgendwas dabei, was das ganze noch gut gewürzt hat.

Vom 8-Gänge-Menü haben wir uns sechs schmecken lassen, Thomas und ich haben uns dazu die Weinreise gegönnt, was bedeutet, dass wir zu jedem Gang den passenden Wein bekommen haben. Ich hätte gerne eine_n Sommelier_e als Freund_in, der oder die mir zu jedem Müsli und zu jedem Käsebrot und zu jedem Stück Marmorkuchen einen Wein empfiehlt. Das Essen alleine war schon wundervoll, aber der Wein dazu hat allem eine weitere Ebene verliehen, die ich jetzt bitte gerne bei allem hätte. Ich nehme Bewerbungen entgegen.

Der Gruß aus der Küche: Buttermilchkürbis mit Süßkartoffelknusperkram und Roter Bete, die anscheinend luftgetrocknet wurde, so hauchdünn war sie – und so hauchzart-dunkelerdig hat sie über der mildsäuerlichen Kürbisbuttermilchmousse gelegen.

Ich habe mir die Auster und den Hummer erspart und stattdessen den Salat genommen. Thomas noch so: „Salat braucht keiner“, aber als er kam, war ich sehr dankbar, keine Auster essen zu müssen (die aber auch sehr gut aussah). Der Salat bestand aus den leckersten Kartoffeln, die ich je gegessen habe: Außen ein ganz winziges bisschen knusprig, innen butterweich. Dazu Périgord-Trüffel, die allem einen extrem leichten Hauch von Waldboden verliehen habe, und Kräuter, die ich nicht identifizieren konnte, die aber alle einen ganz eigenen Geschmack hatten – und alles zusammen war ein Traum. Dazu gab’s einen deutschen Weißwein, den ich natürlich vergessen habe. Der war gut, aber von allen Weinen der „einfachste“. Recht geradeaus, ein bisschen Säure, kaum Frucht. Nettes Schlückchen.

Gänseleber, Pilze und Birkenwasser. Das Birkenwasser gab’s nicht nur als Sorbet auf dem Teller, sondern auch im Glas dazu – schmeckt ein bisschen wie abgestandenes Vittel. Als Sorbet mit der weichen Gänseleber und den bissfesten Pilzchen war es aber großartig. Ich ärgere mich etwas über die Bildperspektive, denn die Pastete war so schick aufgeschichtet wie eine Skischanze, und das kann man hier überhaupt nicht erkennen. Das Grünzeug hat allem eine gewisse Frische verliehen – aber der Kracher war die Weinbegleitung. Es gab einen Gewürztraminer, der schon meine Nase völlig überzeugt hat mit seiner Dichte und Größe und Lieblichkeit, ohne süß und klebrig zu sein. Viel Körper, ganz groß im Mund, aber ohne den Hammer, der den Kopf kleinklöppelt und beim ersten Schluck daran denken lässt, dass man den Wein morgen ganz sicher bereut. Erster Vorsatz: mehr Gewürztraminer trinken.

Mein Lieblingsgang: Rotbarbe, Schweinebäckchen und Ratatouille. Wobei ich bisher unter „Ratatouille“ einen Berg an Gemüse verstanden habe und nicht diese scheinbar mit dem Skalpell zerteilten Miniwürfelchen, die ich kaum essen wollte, so mühevoll hergestellt sahen sie aus. Die Kombination aus Fisch und Fleisch fand ich unsagbar lecker, und ich habe noch nie so knusprigen Fisch gegessen. Man konnte mit dem Messer behutsam die Haut zerknacken, und darunter floß weißweicher Fisch auf die Gabel. Der Wein dazu war ein spanischer Weißer, dessen Traube ich leider, leider vergessen habe. Ganz viel Banane und Mango und ein bisschen Ananaseis, aber nicht süß, sondern kernig. Wie eine Lush-Filiale für Holzfäller.

Ein bisschen was zum Magenaufräumen: Zitrusfrüchte und -sorbet, Heavy-Water-Wodka. Jo. Wie der Name schon sagt. Zitronensorbet und Stöffchen. War okay, aber bei dem Gang dachte ich, hättste man die Austern genommen und den Gang weggelassen.

Auch hier nervt die Perspektive etwas, denn das ganze sah wesentlich aufgeräumter aus als hier. Das mild-würzige Hochrippenstück vom Bremer Rind fand seinen knackigen Gegenspieler in den Linsensprossen, deren Rohheit mir sehr gut gefallen hat. Ich weiß schon gar nicht mehr, was der Rest war: extrem leckeres Gemüse. Und auch wenn Thomas meinte, ich solle nie das Wort „Textur“ verwenden, weil Dollase das dauernd sage (wobei Florian meint, Dollase sage dauernd „Aromaakkorde“) – hier passt es, weil hier eben alles zusammenkam: Festes, eher Weiches, außen knusprig, innen zart, alles bunt, alles toll, alles durcheinander und doch oh so passend. Und dazu einen spanischen Rotwein, der anscheinend gar nicht weiß, was Tannin ist, aber die gleiche Würde und Erhabenheit mitgebracht hat wie die ollen, staubigen Franzosen. Ich habe mir Tempranillo gemerkt, den ich sonst eher mit gelangweilten Schwarzkirschen verbinde, aber hier hatte ich dunkle Beeren in der Nase und im Mund die gesamte spanische Hochebene und ein bisschen Stierblut mit Schokoladenholzsplittern.

Der Nachtisch in zwei Teilen: Pure Caraïbe, Kirschblüte, Reis, Tee und Tonkabohne. Ich habe keine Worte mehr, ich war wirklich irgendwann überfordert von den ganzen hingezauberten Köstlichkeiten. Süß, fein, mild, nicht zu süß, nicht zu fein, nicht zu mild. Und dazu den ersten Portwein, den ich getrunken habe. Zweiter Vorsatz: mehr Portwein trinken. Den kippe ich mir jetzt in Quarkspeisen und Milchreis und strecke den Agenturkaffee damit.

In vierfacher Ausführung von links nach rechts: Schokolade, Parmesan und Rosmarin; Walnuss-Eiskonfekt; Kaffeebrause; gelbe Bete und Pistazie. Ich weiß nichts mehr, ich habe nur noch selig-dumm gelächelt und wollte den Köch_innen die Füße küssen. Einen Espresso noch, den letzten Rest Port, ein Schluck Wasser, mit dankbarem Herzen 93 Euro fürs Essen und 55 für die Weine bezahlt und das Gefühl gehabt, das hätte auch das Doppelte kosten können und es wäre okay gewesen.

Ich habe früher in meiner grenzenlosen Ignoranz immer gedacht, das ist doch alles Schischi, das braucht kein Mensch, ne gute Linsensuppe tut’s doch auch. Ja, Linsensuppe ist toll, aber geeiste Vogelmiere ist auf einer anderen Ebene toll. Um mal wieder auf den Herrn Dollase zurückzukommen, dessen Geschmacksschule gerade zuhause auf dem Sofa liegt und auf mein Durcharbeiten wartet: Der Mann meint auch, man könne seine Sinne schulen. Ich hab halt mit Industriepizza angefangen, dann die Linsensuppe gekocht, und inzwischen hat sich bei mir der kleine Ehrgeiz eingenistet, die zehn Gurkenscheiben abends fürs Sandwich möglichst in der gleichen Dicke abzuschneiden, auch wenn’s eigentlich egal ist. Ich versuche, anders an Essen heranzugehen als noch vor einem halben Jahr, wo ich froh war, wenn die Gnocchi einfach geschmeckt haben. Heute will ich, dass sie auch noch gut aussehen. Und ich will eine Begleitung dazu haben, die das ganze über ein Alltagsgericht heraushebt. Und ich will den passenden Wein.

Natürlich waren das gestern recht übersichtliche Portionen, aber sechs davon hintereinander haben absolut satt gemacht. Und wie gesagt, ich war irgendwann wirklich überfordert von noch mehr und noch feiner und noch raffinierter. Das ist sicherlich auch Übungssache, wie ich anfangs bei meinen naiven Kochversuchen auch überfordert war von neuen Gewürzen und Aromen. Und jetzt taste ich mich eben an die so verballhornten Texturen und Akkorde heran. Für mich ist das alles noch äußerst spannendes Neuland, und ich kann es kaum erwarten, wieder essen zu gehen. Und wieder zu staunen. Und aufs tiefste dankbar zu sein, dass ich mir so etwas Wunderschönes leisten kann.