Black Swan


@ Fox Searchlight Pictures

Black Swan (USA 2010, 108 min)

Darsteller: Natalie Portman, Vincent Cassel, Mila Kunis, Barbara Hershey, Winona Ryder, Benjamin Millepied
Musik: Clint Mansell
Kamera: Matthew Libatique
Drehbuch: Mark Heyman, Andrés Heinz, John McLaughlin
Regie: Darren Aronofsky

Trailer

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Mit Black Swan ist es wie mit Ballett: Man liebt es oder man hasst es. Wenn man nölig drauf ist, könnte man am Film ziemlich rummäkeln: überspannter Psychoquatsch mit Pseudo-Horrorelementen, ein bisschen Rumgemache zwischen Frauen, auf Volume 10 aufgedrehte knackende Knochen, die sich wahrscheinlich nicht mal so anhören, wenn man sie mit einem Baseballschläger bearbeitet, die Eislaufmutti, der Regisseur als grabschender Diktator und die innerlich zerrissene Heldin, die allen gefallen will. Na super. Könnte man alles so stehen lassen. Kann man aber auch anders sehen.

Natalie Portman spielt, nein, erleidet die Rolle von Nina, einer Ballerina, die mit ihren Kolleginnen auf die Hauptrolle in Schwanensee hofft. Regisseur Thomas (Vincent Cassel) bestätigt ihr, dass sie für den weißen Schwan, die unschuldige, naive Odette, perfekt wäre. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn genau das will Nina mit jedem Schritt und jedem Plié und jeder Pirouette erreichen: Perfektion. Dafür trainiert sie nicht nur bei der Arbeit, sondern auch zuhause vor dem Spiegel, ernährt sich von Wasser und Grapefruits und ignoriert blutige Füße und schmerzende Gelenke. Aber selbst das reicht Thomas nicht, denn der schwarze Schwan, die Odile, ist das verführerische, gerissene Gegenbild zu Odette – und genau diese Wesenszüge fehlen Thomas in Ninas Tanz. Und auch die Zuschauer und Zuschauerinnen fragen sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls: Stecken diese zwei Seiten wirklich in Nina?

Wir lernen sie als piepsige junge Frau kennen, die kaum Blickkontakt erträgt, deren Stimme selten lauter als ein zaghaftes Wispern ist und die in einem fast vollständig pinkfarbenen Kinderzimmer bei Mutti (Barbara Hershey) wohnt. Zum Einschlafen zieht die Mutter eine Spieluhr auf, die, natürlich, Schwanensee spielt. Auf dem Fensterbrett sitzt eine Kompanie von Stofftieren, Mama pflückt Töchterchen zärtlich die Ohrringe aus den Läppchen, während diese sich in ihre Decke kuschelt, und nennt sie „sweet girl“. Diese schreckhafte Huschigkeit versaut Nina dann auch das Vortanzen, und als sie einen Tag später zu Thomas geht, um ihn nochmals um die Rolle zu bitten, wirft er ihr wieder vor, die Odile nicht in sich zu haben – greift sie sich und küsst sie. Woraufhin Nina erstmals aus ihrer Niedlichkeit ausbricht und ihn beißt – und sie die Rolle bekommt.

Ab hier gleitet Black Swan langsam in ein schräges Psychogramm ab. Die zwei Seiten, die Nina anscheinend doch in sich trägt, werden verstärkt durch Lily, eine weitere Ballerina, die gleichzeitig ihre Konkurrentin und Freundin zu sein scheint. Sie weckt in Nina Lust, Zorn, Verzweiflung und Wut. Wobei wir Ninas Lust schon vorher zu sehen bekommen haben. Thomas gibt ihr eine „Hausaufgabe“ zur Rollenvorbereitung: “I want you to go home and touch yourself.” Was sie auch brav tut, natürlich, sie tut ja alles, was man ihr sagt. Und bei der Szene hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass Nina die stahlharte, selbstverleugnende Disziplin, der sie sich ständig unterwirft, kurz hinter sich lässt. Ihr Gesichtsausdruck zeigt so viel: zunächst das zögernde, fast mürrische Herangehen an die „Aufgabe“, quasi ein schulterzuckendes „Muss ja“. Dann wird ihr Gesicht weicher, die Lippen öffnen sich, auf einmal ist sie nicht mehr Knochen und Sehnen und Muskeln, sondern Haut und Fleisch und Wärme, die Kamera verlässt ihr Gesicht, zeigt den ganzen Körper, der sich wohlig im Bett windet und streckt und genießt – und wie die Szene aufhört, verrate ich nicht, aber ich habe selten so viel von einer Persönlichkeit in so kurzer Zeit gesehen.

Überhaupt Persönlichkeit: Portman trägt den ganzen Film. Sie ist, wenn ich mich recht erinnere, in jeder Szene zu sehen. Die Kamera bleibt ihr immer sehr dicht auf den Fersen; wir blicken direkt über ihre Schuler, auf ihren Hinterkopf, mitten in ihr schutzloses Gesicht oder sehen das, was sie gerade sieht. Aber nicht nur unser eingeschränkter Blickwinkel macht Black Swan so konzentriert, so fokussiert auf eine Person und ihr Seelenleben. Der Film findet fast nur an zwei Schauplätzen statt, dem Theater und der Wohnung. Die wenigen anderen Sets – ein Club, die Wohnung von Thomas, ein Krankenhaus – sowie Ninas Wohnung wirken fast wie Bühnenbilder, wie inszeniert, während das Theater, die eigentliche Bühne, echter aussieht als alles andere. Genau dort liegen schließlich Ninas Prioritäten. Und dort beginnt auch ihre Verwandlung: von der piepsigen Odette zur besessenen Odile. Mit Betonung auf „besessen“. Sie sieht plötzlich ihr eigenes Gesicht, wo eigentlich andere sein sollten, Gemälde der Mutter bewegen sich, unerklärliche Schrammen zieren ihren Rücken. Der Film nutzt noch weitere Metaphern, um Ninas Geisteszustand zu verdeutlichen, wobei ihr Körper die eindringlichste ist. Blutige Finger, rote Augen, zerbrechende Knochen und schließlich eine schwarze Feder, die sie sich aus der Schulter zieht – klingt alles völlig bescheuert, ergibt im Kontext aber einen brutalen und verstörenden Sinn.

Auch die Beziehung zu den anderen Personen ändert sich. Als Nina ihrer Mutter zum ersten Mal ein “No!” entgegenschleudert, kommt das so tief und dunkel aus dem Bauch, das ich kurz geglaubt habe, in Alien zu sitzen. Und wo sich Thomas früher Ãœbergriffe herausgenommen hat, dreht sie nun den Spieß um – und auf einmal ist der herrische, arrogante Schreihals ein kleiner, dümmlich grinsender Junge.

Man kann Black Swan all das vorwerfen, was ich im ersten Absatz geschrieben habe, aber ich persönlich habe ihn anders empfunden. Er ist sehr intensiv; ich habe jedes Zeitgefühl verloren, und mir kam nach dem Kino die Welt um mich herum sehr banal und pudrig vor, nachdem ich eben zwei Stunden verdichteten Emotionen ausgesetzt war. Um mal das ganz große Fass aufzumachen: Vielleicht ist das auch ein Frauending, dieses Streben nach Perfektion, das Alles-richtig-machen-Wollen, das Gefallenwollen, das Bitten statt Verlangen, das Hoffen auf die Entdeckung statt des Forderns. Und vielleicht ist Ballett nur eine sehr weibliche Metapher für den blöden Kampf, den wir dauernd führen und uns dabei blutige Füße holen. Vielleicht spielt das ganze aber auch nur am Theater, weil Schwanensee nun mal eine klasse Musik ist. Ich behaupte, man kann in den Film eine Menge reininterpretieren, wenn man möchte. Oder ihn völlig bescheuert finden. Ich fand ihn großartig.

Der Bechdel-Test:

1. Es müssen mindestens zwei Frauen mitspielen, die
2. miteinander reden
3. und zwar über etwas anderes als Männer.

Von den vier Hauptfiguren sind drei Frauen, und auch in den Nebenrollen gibt es weitaus mehr Frauen als Männer. Und alle reden über viele Dinge, aber sehr selten über Männer.

Bechdel-Test bestanden: mit Bravour. Endlich mal wieder – Black Swan ist nach The Blind Side erst der zweite von den Filmen, die ich seitdem gesehen habe, die den Test geschafft haben.