Mixed Grill 2011

Eine Konferenz, auf der Transen zu Christina Aguilera Omelettes braten, man sich im Foyer mit Äthercocktails kurzfristig die Lichter ausbläst, Qualle isst, die in kleinen Probierbechern zwanglos im Publikum umhergereicht wird, Menschen zuhört, die über ihre Lieblingshefebakterien sprechen oder darüber, dass die Kirsche in der mittelalterlichen Bildsprache die Jungfräulichkeit (“pop the cherry”) oder auch Jesus Christus symbolisiere, sollte eigentlich nicht „Konferenz“ heißen, sondern „unfassbarer Spaß, nach dem man nur noch essen und trinken und über Essen und Trinken reden möchte.“ Genauso war’s auch. Fuck yeah Mixed Grill.

Florian hatte sich als Speaker angemeldet und mich gnadenlos an meinen Neujahrsvorsatz erinnert, mit dem ich beschlossen hatte, mal mehr vom Sofa runter- und in Restaurants reinzugehen und Leute zu treffen, die ähnlich denken. Also buchte ich knurrend Flug und Hotel und die lächerlich billige Eintrittskarte (20 Pfund für tagelang gute Laune – ich komme von dem High überhaupt nicht mehr runter) und schleppte mich Samstag morgen zur Conway Hall. Dort erwartete mich eine gut gelaunte Einlassdame, die sich offensichtlich über meine brav ausgedruckte Eintrittskarte freute. (Endlich mal jemand, der meine Sichthüllenmentalität zu schätzen weiß.)

Der Mixed Grill wurde von Fire & Knives veranstaltet, einem Magazin, das sich ausschließlich mit Essen beschäftigt. Herausgeber Tim Hayward begrüßte die anwesende wuselige Schar aus geschätzt 200 Leuten, entschuldigte sich für die Verspätung (Beamer-Probleme, what else is new), und dann ging’s im 15-Minuten-Takt rund. Denn das Besondere und etwas, was mir sehr gut gefallen hat, war die Redezeit der Speaker: Jeder hatte 15 Minuten. Oder wie Tim sich ausdrückte: “You will be bored 10 minutes at most.”

Als erste stelle Morgaine Gaye Essenstrends der Zukunft vor. Das war für mich pure Glaskugelei, aber ich fand die Idee schön, dass wir angeblich in Zukunft Essen mehr feiern würden, uns mehr Gelegenheiten schaffen, an denen wir es uns gutgehen lassen. Joanna Moore erzählte dann etwas über Essen in der Kunstgeschichte. Was davon bei mir hängengeblieben ist, war der Gegensatz von den üppigen Tableaus von z.B. Breughel, der in Zeiten von Hunger und Armut das Schlaraffenland malte, während heute im Zeitalter des Ãœberflusses Damien Hirst Tausende von Fliegen in einem Glaskubus ein Festessen in Kompost verwandeln lässt. Matthew Ford erzählte über Essen in Detektivromanen und zitierte Raymond Chandler: “If in doubt, let a guy walk through the door with a gun. – I say: Let him carry a chef’s knife.” Chris Neill behauptete zwar, überhaupt nichts über Essen zu sagen zu haben, gab dann aber doch den guten Tipp: “Never buy cookery books with pictures – it only leads to disappointment.”

Man ahnt schon: Die Mischung hat den Tag so spannend gemacht. Und die Kürze der Vorträge hat wirklich dazu geführt, dass man überhaupt keine Chance hatte, sich zu langweilen, weil BAM! schon das nächste große Ding hinter der Bühne wartete. Am meisten Spaß gemacht haben natürlich die Darbietungen, an denen man teilhaben konnte. So erklärte ein Barmensch, dass er Äther als Bestandteil von Cocktails wiederentdeckt habe. Äther war um die Jahrhundertwende eine beliebte Droge, weil sie einen sehr schnell abschießt, aber auch schnell wieder nüchtern macht. “If you’re doing it right, you can be stoned and sober six times before lunch.” Seine Kreation: “Champagne, which is totally overrated, with a strawberry, which is totally overrated, and ether.” Das ganze gab’s in kleinen Becherchen zu ₤2,50, und nach zwei Schlucken ahnte ich, wieso das Zeug so beliebt war. Es schmeckte zwar, als ob man einen besoffenen Zahnarzt küsst, aber es geht richtig gut in den Kopf – und verdammt schnell wieder raus.

(Der Becher gehört mir, die Hand Little Jamie, von der ich mich hektischerweise gar nicht verabschiedet habe, sorry.)

“Gastronaut” Stefan Gates hat mir ebenfalls sehr gut gefallen. Er zeigte Bilder aus seiner Bad Food World Tour, wo er nicht nur Zeug isst, was sonst nur Dschungelcamp-Kandidaten essen, sondern auch Food Aid probiert, das die UN im Kongo verteilt, oder sich von alten Damen in Tschernobyl bekochen lässt. Sein Motto: “You spend 6 years of your life eating. Make it an adventure.” Dazu gab’s Fotos, auf denen man ihm beim Essen von Scheußlichkeiten zugucken konnte, und seitdem weiß ich, dass Kamelhöcker wie Spam schmeckt und die fiesen Maden, die man eben im Dschungelcamp kriegt, pure Tortur sind, weil sie nie roh, sondern gekocht gegessen werden. Aber angeblich schmecken sie dann auch noch fürchterlich. Wir durften auch was probieren und zwar entweder Qualle, in Sesamöl und Limettensaft mariniert, oder pures Glutamat. Ich habe die Qualle genommen, die ich schon aus China kannte, und mich über die Tweets von anderen Teilnehmer_innen gefreut, die entsetzt zwitscherten, dass man dieses verdammte Glutamat noch nach zehn Minuten im Mund schmeckt.

Eine meiner liebsten Sessions war eine Verbindung aus Essen und Literatur (ich meine: hallo? MEHR!). Jose Estudillo las ein Stück aus der englischen Übersetzung von Manuel RivasDer Bleistift des Zimmermanns vor, in dem Gefangene sich ein Festessen vorstellen. Wir bekamen alle einen kleinen Becher, in dem eine schokoladenüberzogene Kastanie lag. Und sobald im Text eben diese Kastanie erwähnt wurde, sollten wir sie mit geschlossenen Augen essen. Ganz simple Idee, aber sehr sinnlich und wunderschön.

Ich weiß gar nicht, was ich noch alles aufzählen soll. Den sehr überzeugenden Bäcker erwähnte ich gestern schon, den Bakterienvortrag kann man sogar nachlesen, Philip Dundas hat mich sehr bewegt mit der Geschichte über seinen Vater, der erst nach dem Tod der Mutter angefangen hat zu kochen, und der zweitschönste Satz, den ich seit Samstag mit mir rumschleppe, stammt aus dem Vortrag von Betty Herbert und ist ein Zitat der one and only Miss Piggy: “Never eat more than you can lift.”

In diesem Sinne: auf die Mailingliste des Mixed Grill setzen lassen und beim nächsten Mal dabei sein. Sehr inspirirend, sehr unterhaltsam und sehr, sehr toll.