Tagebuch Samstag, 14. November 2015 – Twitterpause

Traurig und entsetzt. Und gleichzeitig stumm. Ich hatte keine Worte, und ich wollte eure nicht lesen. Twitter war mir zu viel, ich habe es mehrmals am Tag versucht, aber es war einfach zu viel. Nicht nur die Nachrichten aus Paris, sondern auch die Reaktionen, die Reaktionen auf die Reaktionen, das Gegenhalten, das „Ihr macht das falsch, ihr müsst das so machen“, das Aufrechnen mit anderen Anschlagsorten und -opfern, das ewige Retweeten von Arschlöchern, anstatt sie einfach zu melden, zu blocken und weiterzugehen, wieso muss dieser Hass noch verbreitet werden? Mir ist schon klar, dass es ihn gibt, danke, reicht, nicht heute, bitte. Die vielen Fakes, die vom Januar stammen und trotzdem retweetet werden, die vielen Tweets, die darüber aufklären, es war einfach zu viel, es war eine Kakophonie von Meinungen, Fassungslosigkeit, Wut und Trauer und zu vielen Worten, wo für mich persönlich Schweigen besser erträglich war. Ich hatte nicht die Kraft für das alles, ich habe mich hilflos am Schreibtisch verkrochen und unkonzentriert versucht zu arbeiten. Hat aber auch nicht funktioniert. Und dass ich dazu auch noch an die Verwandten vom Kerl dachte, die in Paris leben, die ich teilweise kennenlernen durfte und über deren Verbleib ich keine Infos habe, und dass ich dann dachte, ich hätte auch nicht mehr das Recht auf diese Infos, hat es nicht besser gemacht.

Tagebuch Freitag, 13. November 2015 – …

Im Iconic-Architecture-Kurs hörten wir das zweite Referat zum Guggenheim Bilbao. Im Gegensatz zum ersten, das sich ausschließlich mit der Architektur des Gebäudes beschäftigte, ging es gestern um die Guggenheim Foundation und dass diese die Franchise-Geberin für die ganzen Guggenheims weltweit ist. Das wusste ich noch nicht – ich dachte, das Museum expandiert auf eigene Kosten, um seine Sammlung weltweit zu präsentieren. Letzteres tun die Stiftung, aber: Es kostet sie weit weniger als ich dachte. Im Fall von Bilbao gehört das Gebäude der baskischen Regierung, die Bau und Unterhaltung bezahlen durfte und darf und sich den Namen Guggenheim und die Sammlung quasi dauerleiht. Wenn diese Rechte in gut 50 Jahren ausgelaufen sind, kann sich Bilbao überlegen, ob es das alles verlängert (falls die Guggenheim Foundation will) oder ob ins Gebäude lieber ein Basketball-Court und eine große Frittenbude gehört.

Wir sprachen auch über den anderen Fall der Zusammenarbeit, die kein Franchise ist, sondern ein Joint Venture, genauer gesagt, die still und leise abgewickelte Deutsche Guggenheim in Berlin. Die Website ist noch da, aber per Sticker als „Archiv 1997–2012“ gekennzeichnet – und man findet nirgends Infos darüber, warum diese Zusammenarbeit nicht mehr existiert.

Die Referentin sprach auch über kulturelles versus ökonomisches Kapital à la Bourdieu. Den habe ich ja bisher noch in keinem Referat gehabt und mich dementsprechend gefreut. War auch alles hübsch erklärt und nachvollziehbar. Leider las die Referentin fast komplett vor wie auch die Dame am Mittwoch zum Bitterfelder Weg. Ich versteh das ja, Mädels, klar kann man so die Hausarbeit schon hübsch anformulieren, aber es ist so. extrem. anstrengend. zum. Zuhören. Wisst ihr doch eigentlich auch selbst. Knurr.

Das war mein Blogeintrag, wie ich ihn um kurz vor 20 Uhr tippte. Dann bereitete ich mir ein schnelles Abendessen zu und machte es mir vor dem Laptop gemütlich, um in Ruhe das Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Frankreich in Paris anzuschauen. Länderspiele sind mir eher egal, Freundschaftsspiele noch mehr, aber gestern abend lief nach sehr langer Pause Mario Gomez mal wieder auf, und so saß ich gut gelaunt vor dem Rechner, guckte und aß. In der ersten Halbzeit war zweimal ein lauter Knall zu hören und ich dachte sofort, Alter, die Pyro-Deppen sind wieder da. Fußball halt. Im Laufe des Spiels wurde aber recht schnell klar, dass das keine Feuerwerkskörper waren, die wir gehört hatten. Auf Twitter mehrten sich die ersten Gerüchte über Anschläge, nach dem Spiel schaute ich die Tagesschau und heute, die Opferzahlen gingen immer mehr nach oben, und ich merkte recht schnell: Ich will das nicht. Ich kann das nicht.

Ich verzweifele an solchen Abenden immer sehr an der Menschheit, und ich kann das nicht mehr aushalten. Ich dachte an 9/11, an die Geiselnahme in einem Theater und einer Schule in Russland vor längerer Zeit, an Charlie Hebdo, und ich will einfach nicht mehr lesen, wieviele Menschen es sind, die ihr Leben verloren hatten, ich will kein Newsblog und keinen Ticker und vor allem kein Periscope. Es ist kurz nach Mitternacht und ich klappe den Rechner jetzt zu.

Tagebuch Donnerstag, 12. November 2015 – #12von12

Wie jeden Monat am 12.: zwölf Fotos von meinem Tagwerk. Draußen nur Kännchen sammelt alle Mitspieler*innen.

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Wenn ich alleine schlafe, liege ich auf meinem geliebten breiten, herrlich bequemen Sofa rum, das hervorragend als Bett geeignet ist. Wenn ich einen Übernachtungsgast habe, mit dem ich mein Lager teilen möchte, klappe ich Multy auf, das mich seit 15 Jahren begleitet, in den letzten Jahren in Hamburg aber nur noch als Gästebett Verwendung fand. Jetzt wird es wieder regelmäßig beschlafen – und ich muss morgens wieder Bettdecken per Reißverschluss schließen und Dinge zusammenklappen, anstatt einfach eine Tagesdecke über das Bettzeug zu schmeißen. But it’s so pretty!

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Beim Duschen habe ich in Hamburg jahrelang Plärrradio gehört („Die besten Hits von gestern, vorgestern und irgendwann“), in München bin ich, warum auch immer, auf eher wortlastige Sender wie B5 oder Deutschlandfunk umgestiegen. Längere Zeit war dann morgens im Bad Ruhe, aber seit einigen Wochen läuft wieder B5. Vielleicht ist das so’n Winterding.

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Das übliche Frühstück (ja, langweilig, ich weiß, schmeckt aber und hält bis mittags satt) mit Blick auf Opas Holzklotz, Omas Nähkästchen und Omis Silberschale.

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Wir begannen den Tag mit Kultur: Im Lenbachhaus läuft gerade eine große Klee/Kandinsky-Ausstellung, und wenn ich groß sage, meine ich das auch so. Ich war sehr erschlagen, habe mich aber über das rege Besucher*inneninteresse gefreut. Und natürlich über den Mansplainer, der seiner Frau (?) genau das erzählte, was er sich eben im Wandtext angelesen hatte. *schnauf*

Das Bild zeigt leider nicht das Innere der Ausstellung – man durfte selbstverständlich nicht fotografieren (*doppelschnauf*) –, sondern den Blick, den man aus der U-Bahn-Station auf den Kunstbau hat. Das Ding sollte nämlich mal ein U-Bahnsteig werden. Gut für uns, dass es das nicht geworden ist.

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Nach Kunstgucken kam das Kunstschreiben: Ich radelte über den Königsplatz zum Zentralinstitut für Kunstgeschichte, das man rechts im Bild hinter der Antikensammlung sehen kann.

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Beim Büchersuchen über Kiefer mal nebenan in Regal geguckt, ob der Katalog der Ausstellung, aus der ich gerade kam, schon da war. War er natürlich. Gutes ZI!

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Ich hatte aber keine Zeit für Klee und Kandinsky, sondern nur Augen für Kiefer. Nach den ganzen Lobeshymnen habe ich gestern endlich mal ein paar Verrisse über ihn gefunden, zum Beispiel von Altmeister Danto, der 1989 über Kiefers Werke schrieb, sie seien „schlammig“ und „opernhaft“, voll „schwülstiger Symbolik“, „gerissene[m] Obskurantismus“ und „wahnwitziger Botschaft“. Den Kurator der ersten MoMA-Ausstellung, Mark Rosenthal, nennt Danto einen „verblendeten Enthusiasten“, die breite Masse, die Kiefer mag, verbinde Undurchsichtigkeit mit Tiefe, und Kiefer selbst sei ein „ungeratene[s] Talent“. Immerhin! (Alle Zitate aus Arthur C. Danto: „Anselm Kiefer“, in: Ders.: Reiz und Reflexion, München 2004, S. 279–285.)

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Nach ein paar Stündchen Exzerpieren, Lesen und Lernen radelte ich zur Stabi, Bücher abholen.

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Und dann in die Zentralbibliothek der LMU, Bücher abholen. (Ach was.)

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Zuhause lag im Briefkasten ein Schreiben der LMU. Erste Reaktion, die ich immer habe, wenn unerwartet Post der Uni kommt: OMG sie haben mich exmatrikuliert, ich hab irgendwelche Fristen verpasst, Geld nicht überwiesen, bin zu alt, darf nicht mehr mitspielen. Umso größer war meine Freude, als ich den Brief öffnete und las, dass ich zu den besten zehn Prozent meines Jahrgangs gehörte. Darüber jubelte ich im Fahrstuhl – und kapierte dann erst, dass ich für diese Leistung auch noch Geld kriege bzw. zurückkriege. Kommentar von F. per SMS: „Reicht’s fürs Broeding oder fürs Tantris?“ TANTRIS, BABY!

Disclosure für die Neugierigen unter euch: Im ersten und zweiten Semester musste ich noch über 500 Euro abdrücken, dann wurden die Studiengebühren abgeschafft und es gab nur noch sogenannte Semesterbeiträge, die sich auf jeweils gut 100 Euro pro Semester beliefen (wobei ich nicht weiß, ob’s die auch zurückgibt. Egal). TANTRIS, BABY!

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Es wurde hart gefeiert.

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Abends weiter am Schreibtisch gesessen, Spaghetti cacio e pepe gegessen und fotografiert, aber das sah so fürchterlich aus, dass ich ein neues zwölftes Bild machen musste. Mit Buch im Bett *hust*

Tagebuch Mittwoch, 11. November 2015 – Bitterfelder Weg

Vormittags hatte ich wieder mein geliebtes Ost-West-Dialoge-Seminar. Das erste Referat handelte vom Bitterfelder Weg, von dem ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Die Referentin zeigte sehr spannende Bilder, und ich muss zugeben, dass mir die Ästhetik der Kunst der 1950er Jahre der DDR durchaus zusagt. Weder Google noch Prometheus zeigen mir aber die Bilder, die ich so schön oder interessant fand; ich ahne jetzt, warum die Dame gestern so viele Schwarzweißbilder in ihrer Präsentation hatte – das waren wahrscheinlich Buchscans. Zwei Gemälde habe ich allerdings gefunden:

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Walter Womacka: Rast bei der Ernte (1958), 165 x 180 cm, Öl auf Leinwand, Neue Nationalgalerie Berlin.

Die Kunstpolitik der DDR änderte sich seit der Staatsgründung mehrfach. Das Problem war meist, dass die Verantwortlichen zwar sagen konnten, was sie nicht wollten (westlich-dekadente Kunst, was unter anderem die Abstraktion bedeutete), allerdings weniger, was sie stattdessen wollten. Es gab kein offzielles künstlerisches Konzept, nur Anweisungen, den Arbeiter- und Bauernstaat würdig zu repräsentieren, was den Künstler*innen bei der Umsetzung erstmal freie Hand ließ, dem Staat aber trotzdem die Möglichkeit gab, Bilder abzulehnen bzw. nicht auszustellen, weil sie den vagen Anweisungen eben doch nicht entsprachen.

Uns erinnerte Womackas Bild an die französischen Impressionisten, vor allem Manets Frühstück im Grünen. Es zeigt allerdings keine Bürger*innen, sondern entspannte Menschen, denen die neue Qualität ihrer Arbeit bekannt ist. Durch die (angeblich) gesellschaftliche Teilhabe an allem arbeitete man für sich selbst und daher selbstbewusster und anerkannter als früher. Was bei der Darstellung von Werktätigen nicht gewünscht war: verzerrte Körper und Gesichter, denen man die Anstrengung der Arbeit ansieht. Es sollte eher die Zufriedenheit und der Stolz auf die eigene Leistung gezeigt werden, was viele der Bilder, die wir gestern sahen, auch taten und mir unerwarteterweise wirklich gut gefielen. Umso mehr ärgert es mich, dass ich sie nicht finde. Ein Beispiel war Otto Schutzmeisters Brigade des Baggers 431 im VEB Braunkohlewerk Nachterstedt von 1958.

Über das letzte Bild, was schon dem Bitterfelder Weg enstprach, war ich sehr erstaunt:

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Heinrich Witz: Der neue Anfang (1959), 129,2 x 98,8 cm, Öl auf Karton, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn.

Ich hätte jetzt keine Champagnerflaschen im Sozialistischen Realismus erwartet, aber wie F. gestern abend launig meinte: „Das ist bestimmt Rotkäppchen-Sekt“. Auch hier fühlten wir uns im Kurs an Manet erinnert, dieses Mal an die Bar in den Folies-Bergère. (Nebenbei: An dem Bild haben wir im Lektürekurs den male gaze durchgesprochen. Noch nebenbeier: Alle Texte aus unserem Lektürekurs gibt’s als Buch.)

Das Bild zeigt, wenn ich mich richtig erinnere, die Begegnung zwischen einem Intellektuellen (rechts) und einem Arbeiter (dementsprechend links), die sich, ganz wie Künstler und Arbeiter im Betrieb, einander annähern und voneinander profitieren. Ich sehe keine wirklichen Unterschiede zwischen den beiden Herren, außer dass der rechte sich vielleicht etwas wohler in seinem Anzug fühlt, aber so ganz konnte ich die Bildbesprechung nicht nachvollziehen. Außerdem war ich natürlich wieder quengelig über die Deko-Dame im Vordergrund, fand aber das gemalte SED-Logo in der Bildmitte sehr amüsant. Ich mag die Farbigkeit gerne sowie die von der Partei gewünschte Typisierung: Die Gesichter haben kaum individuelle Züge, es soll eher das Wir als das Ich gezeigt werden.

Generell finde ich es sehr spannend, mich mit DDR-Kunst auseinanderzusetzen, von der ich zugegebenermaßen wirklich überhaupt keine Ahnung habe.

Tagebuch Dienstag, 10. November 2015 – Am Schreibtisch

Am Referat weitergewerkelt, leider viel langsamer als geplant. Zwischendurch Tee gekocht, ein, zwei Serienfolgen geguckt, um das Hirn auszuruhen, dann weitergestolpert von einem Aufsatz zum nächsten, von einem Bildband zum anderen.

Nachmittags mit Twitter um Helmut Schmidt getrauert.

Mich sehr über einen Tweet bzw. eine Bildinterpretation vom Getty Museum gewundert. Ein Bild aus ihrer Sammlung von William Hogarth zeigt einen Mann, wie er offensichtlich mit Gewalt versucht, sich eine Frau gefügig zu machen; das Bild heißt Before. Der Mann zerrt am Rock der Frau, diese versucht ihn mit ihrem Arm abzuwehren, der gegen seine Stirn gepresst ist, gleichzeitig greift sie nach einem Tisch, um einen festeren Stand zu bekommen. Auf dem Tisch befinden sich ein Spiegel und zwei Schachteln, die vermutlich Schönheitsprodukte enthalten, am Spiegel hängt ein Band. Das Zimmer scheint also der Frau zu gehören und trotzdem ist sie nicht in ihm sicher. Der Tisch kann ihr keinen Halt bieten, er fällt um, eine Schublade springt auf, die Schachteln rutschen zu Boden, der Spiegel zerspringt, wie man im Folgebild erkennen kann.

Es heißt After und zeigt beide, wie sie ihre Kleidung ordnen. Der Mann scheint schon wieder auf dem Sprung zu sein, die Frau legt ihre Hand auf seine Schulter. Der Text vom Getty dazu: „[T]he disheveled woman implores his discretion. The overturned table and broken mirror symbolize the woman’s shattered life now that she has lost her virginity.“

Gerade wenn man sich den letzten Satz durchliest, frage ich mich, wie man ernsthaft von einer Verführung sprechen kann, wie es das Museum im Begleittext und im vorhin angesprochenen Tweet tut. Mit meiner Irritation war ich nicht alleine, wie die anderen Kommentare zum Tweet zeigen, und eine der Antworten des Museums – „maybe we shouldn’t judge it based on our modern day sensibilities“ – kommt mir immer noch komisch vor. Einen offensichtlichen Übergriff als Verführung zu bezeichnen, ist einfach dämlich, und das hat nichts mit irgendwelchen Empfindlichkeiten zu tun, sondern damit, dass wir heute beim Namen nennen, was damals als Kavaliersdelikt umschrieben und mit boys will be boys und „Frauen wollen das doch so“ entschuldigt wurde wurde. Selbst wenn es zur Zeit der Bildentstehung die Absicht des Malers gewesen sein sollte, die (aus der männlichen Perspektive formulierte) Mär vom gefallenen Mädchen und ihrem stürmischen Eroberer darzustellen, kann man heute durchaus einen kritischen Blick auf den Bildinhalt werfen und ihn als das bezeichnen, was er ist.

(Bin auch jetzt, Stunden später beim Aufschreiben, noch stinkig. It’s the fucking Getty!)

Abends eine Avocado zermatscht, ein bisschen Ciabatta getoastet und gegen 22 Uhr gegessen, nachdem ich das am Schreibtisch völlig vergessen hatte.

IT’S THE FUCKING GETTY!

Immerhin wurde ich an die Bilder von Hogarth erinnert, die mir im Studium schon über den Weg gelaufen sind: Beer Street/Gin Lane und Marriage à la mode.

Tagebuch Montag, 9. November 2015 – Referat, Uni, Überraschung

Vor der Uni um 12 am Schreibtisch gesessen und endlich die Anselm-Kiefer-Referatstruktur festgezurrt. Für mich jedenfalls, mal sehen, was mein Mitstreiter sagt.

Ich hatte seit Tagen Schwierigkeiten, die deutsche Mythologie, das politische und kulturelle Klima Ende der 1960er, Anfang der 1970er und die Wagner-Nutzung im NS-Staat mit den Werken Kiefers unter einen Hut zu kriegen bzw. die ganzen Einzelteile in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Ich glaube, jetzt hab ich’s: Wir fangen mit kurzen biografischen Hinweisen an sowie mit den Themen, mit denen sich Kiefer seit 45 Jahren auseinandersetzt, und leiten dann über zu unserem eigentlichen Fokus, der Mythologie. Die erläutern wir anhand einzelner Werke; anfangs hatten mein Partner und ich uns überlegt, erstmal den ganzen theoretischen Kram zu erzählen und dann die Werkbesprechungen zu machen, aber ich glaube inzwischen, es ist sinnvoller, alles miteinander zu verbinden.

Wir beginnen mit dem Werk Besetzungen von 1969, Kiefers Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Karlsruhe, einem Fotobuch, das ihn an verschiedenen europäischen Plätzen zeigt, an denen er den Hitlergruß zeigt (hier einige Bilder). Kiefer nutzt die faschistische Ikonografie, um sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen, er performt sie, um sie zu verstehen. Die Bilder zeigen einen kleinen Mann, der alleine eine Geste vollführt – das ist ein großer Unterschied zu 500.000 Menschen beim Reichsparteitag. Trotzdem kamen die Bilder nicht allzu gut an, und Kiefer wurde unterstellt, Faschist zu sein. Der Wunsch Kiefers, Dinge zu imitieren, um sie ansatzweise nachvollziehen zu können, stieß gerade in der linken Szene und der Studentenbewegung der Bundesrepublik auf Unverständnis, da diese sich gewiss war, ihnen wäre so etwas nie passiert; sie wähnten sich auf der moralisch richtigen Seite und wollten gar nicht verstehen, warum ihre Mütter und Väter sich schuldig gemacht hatten.

Von den Besetzungen ausgehend kommen wir auf weitere Bilder, an denen wir verschiedene Inhalte erklären: Bei Parsifal II (1973) könnten wir über das Heilsversprechen durch einen Erlöser in Wagners Parsifal referieren und das in Bezug zur Hitlerbegeisterung in Deutschland setzen. Ich würde auch gerne klären, warum sich Kiefer an Wagner abarbeitet anstatt am Originalmaterial. Vielleicht weil die Umarbeitung Wagners schlicht bekannter war als das von Eschenbach’sche Original (das ja auch schon eine Adaption ist)? Ich möchte auch auf den Dachboden eingehen, den wir im Bild sehen, als Ort, an dem man Dinge ablegt, mit denen man sich nicht länger beschäftigen möchte, aus den Augen, aus dem Sinn.

Bei Siegfried vergißt Brünnhilde (1975) erläutern wir den Stellenwert der Nibelungen in der deutschen Geschichte, angefangen beim Wort der Nibelungentreue. Göring bezog sich nach der Niederlage bei Stalingrad auf das Epos: „… wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das hieß „Der Kampf der Nibelungen“. Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit eigenem Blut …“

Wenn wir dann noch Zeit haben, könnten wir über Volkslieder als Teil der deutschen Mythologie sprechen und es mit Maikäfer flieg (1974) belegen sowie über die Hermannsschlacht durch Varus (1976).

Auf die Reihenfolge bin ich gekommen, indem ich mir, wie fast immer bei Referaten, anfange, selbst zu erzählen, was ich dem Kurs erzählen wollen würde. Dabei merke ich meist recht schnell, was sinnvoll ist und wo ich mich verfranse.

Um 12 saß ich dann wieder in der Barock- und Klassizismusvorlesung und lernte endlich mal anständig, was Wandpfeilerkirchen sind. Den Begriff hatte ich schon mal im Vorbeigehen mitbekommen, wusste aber nie, wie genau diese Art Kirche sich von der Saalkirche mit Abseiten unterscheidet. Jetzt weiß ich’s. (Ein kleiner Rückblick ins erste Semester, wo man alle grundsätzlichen Kirchentypen lernt – einfach den ersten Absatz lesen.)

Wir hangelten uns bei der Definition durch zwei Kirchen, die wir schon kannten – Il Gesù in Rom, St. Michael in München – und verglichen ihre Bauweise mit der Studienkirche in Dillingen, die Anfang des 17. Jahrhunderts errichtet wurde und eine Blaupause für alle weiteren Wandpfeilerkirchen hätte werden können, wäre nicht der 30jährige Krieg dazwischengekommen. Nach der großflächigen Verwüstung Mitteleuropas dauerte es einige Zeit, bis jemand wieder eine Kirche bauen wollte, und die Baumeister waren ein bis zwei Generationen weiter. Daher hat sich das Vorarlberger Münsterschema durchgesetzt, das auf der kleinen Dillinger Kirche beruht, sich aber doch von ihr unterscheidet.

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Das sind Il Gesù (oben, 1568–84) und St. Michael (unten, 1583–97), beides Saalkirchen mit Abseiten. Das sind diese kleinen seitlichen Kapellen; sie sind keine Seitenschiffe – ein Seitenschiff ist längs zum Mittelschiff ausgerichtet, die Abseiten sind quer. Den simpelsten Unterschied zur Wandpfeilerkirche sieht man sofort:

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Die Abseiten hören weit unterhalb des Tonnengewölbes auf, während sie bei der Wandpfeilerkirche bis zum Beginn der Tonne reichen. Ein weiterer, gut sichbarer Unterschied ist die Lichtführung. Bei den Saalkirchen fällt das Licht durch den Obergaden (bei St. Michael ist noch eine Empore eingefügt), bei der Wandpfeilerkirche nehmen die Fenster einen großen Teil der Wand ein. Die Pfeiler sind ohne Unterbrechung bis zum Gewölbe gebaut, im Gegensatz zu den Saalkirchen: Bei Il Gesù trennt eine breite Gebälkschiene die Pfeiler vom Obergaden bzw. dem Gewölbe, bei St. Michael sind die Pfeiler verkröpft und bilden so eine visuelle Grenze.

Bei einer Wandpfeilerkirche sind zudem die Abseiten viel wichtiger für den Gesamteindruck als bei den Saalkirchen. Dort sind sie eher dunkle Einbuchtungen, die dem Zentralraum deutlich untergeordnet sind, während sie bei der Wandpfeilerkirche diesen Raum mitdefinieren. Generell kann man sagen, dass es bei der Wandpfeilerkirche eher um Pfeiler- als um Wandgestaltung geht. Die Wand, die wir in Il Gesú noch massiv vor uns sehen, ist in Dillingen fast aufgelöst.

Nach der Vorlesung radelte ich nach Hause und fand in meinem Briefkasten etwas, das mich stundenlang grinsen ließ:

Ich schmeiße heute noch einen Dankeschönzettel in den Briefkasten unten im Haus, aber falls meine Nachbarin das hier schon liest: Vielen Dank! Ich biete Blumengießdienste für die nächsten Urlaube an!

Die neuen Fenster der Kathedrale von Reims

Imi Knoebel durfte drei Fenster für die von Deutschen im Ersten Weltkrieg stark beschädigte Kathedrale anfertigen. 26 Minuten bei arte+7. Ganz besonders empfehlenswert für Freund_innen der Glasverarbeitung. Ich stehe sehr ehrfürchtig vor diesem Material.

Als Rausschmeißer ein kleiner (Werbe-)Film, der verdeutlicht, wie individuell wir sehen. Via Ragna Buck, meiner guten alten Art-Gefährtin, als ich noch freie Texterin war.

Tagebuch Samstag/Sonntag, 7./8. November – About

Seit dem 31. August schreibe ich wieder täglich ins Blog. Das sollte anfangs nur eine Fingerübung sein, weil ich gemerkt hatte, dass ich meine ganzen Links nur noch so gut wie unkommentiert vertwitterte und nur noch 140-Zeichen-Status (mit langem U gelesen) abgab.

Seit der Trennung vom Kerl und während der mühseligen Erstellung der BA-Arbeit habe ich vieles mit mir selbst ausgemacht, vieles mit Freundinnen am Telefon ausdiskutiert, aber vieles auch einfach nur angedacht und dann ignoriert, weswegen es immer wieder hochpoppte. Also habe ich wieder angefangen, täglich zu bloggen, so wie früher, genauer gesagt, so wie ganz früher. Ich habe dieses Blog im Juli 2002 begonnen, als ich noch Single und Juniortexterin war. Inzwischen hat sich vieles geändert, aber das Blog war immer da. Es hat sich im August plötzlich wie die einzige Säule angefühlt, die konstant in meinem Leben rumsteht, während alle anderen bröckeln, schon abgetragen sind oder gerade erst aufgerichtet werden. Ich gehe nicht mehr arbeiten, sondern studieren, ich wohne wieder alleine, bin allerdings vergeben, fahre Fahrrad statt Auto, trage Röcke und Kleider, lese Mama- und Nähblogs (das ist so nett da) statt Kino- und Klatschblogs, habe einen eBook-Reader und gehe in Fußballstadien. Und ich blogge wieder täglich, weil sich das gut anfühlt und mir ein bisschen Struktur gibt, die ich sonst in meinem Leben gerade etwas vermisse.

Gestern zickte der Server allerdings rum, weswegen ich den Samstag-Blogeintrag nicht online stellen konnte. Stattdessen habe ich ihn mit dem Sonntagseintrag verwurstet und die kurze Erklärung da oben geschrieben.

An beiden Morgen neben F. aufgewacht, Samstag bei mir, Sonntag bei ihm. Beide Male sehr genossen, wenn es auch immer noch ungewohnt ist, dass nach dem Ausschlafen und Rumkuscheln er oder ich die Wohnung verlassen.

Samstag großen Wohnungsputz erledigt. Endlich die schicken weißen Kisten im Bad vernünftig geordnet; da hatte ich ja nach dem Einzug erstmal alles irgendwie reingeworfen und die Deckel hilflos geschlossen. Jetzt ist alles hübsch aufgeteilt, und ich habe mal wieder viel weggeworfen. Staub gewischt auch an den Stellen, die ich sonst ignoriere (Zierleisten an den Türen. Wer denkt sich sowas aus?). Bücherregal selbstverständlich nicht abgestaubt, da wäre ich ja heute noch nicht fertig. Nach dem Putzen beim Fußballgucken eingeschlafen. Noch eine Folge Everwood geguckt (die Serie ist toll, die ist in ihrer völlig irrationalen Schnuffigkeit genau das, was ich gerade sehen will), dann zu F. geradelt, wo wir Foodora antesteten. Die Burger und Pommes von Ruff’s Burger kamen frisch und anständig temperiert an. Gerne wieder. Ein Sonderherzchen für F.: Als ich nach der Bestellung ohne Hintergedanken meinte, och, so’n Bier wär zu den Burgern echt super, sprang der gute Mann noch mal eben schnell zum Supermarkt an der Ecke und war vor dem Futterfahrer wieder da.

Ich revanchierte mich am nächsten Morgen, indem ich zum Deli zwei Straßen weiter radelte, frische Bagels kaufte und sie F. in die Wohnung trug, zwei belegte für den Herrn, zwei unbelegte für mich. Die habe ich im Laufe des Tages bei mir zu Hause verspeist, an dem ich nichts getan habe als entspannt lesend, serien- und fußballguckend mit einem Kaffee auf der Couch zu sitzen und mich über eine saubere Wohnung zu freuen.

Tagebuch Freitag, 6. November – Bilbao/Peking/München

Im Iconic-Architecture-Kurs hörten wir das erste Referat: Es beschäftigte sich mit der Baugeschichte und der Architektur des Guggenheim Bilbao von Frank Gehry. Eine Schwierigkeit für die Referentin war, wie sie charmant zugab, die Objektbeschreibung. Das ist ja unsere Hauptbeschäftigung als Kunsthistoriker*innen: Erstmal sagen, worum’s überhaupt geht und zwar so genau wie nötig. Das ist bei Barockkirchen zwar viel Arbeit, weil so viel Zeug an ihnen dran ist, aber wir haben Vokabeln gelernt, mit denen wir die einzelnen Bauteile beschreiben können. Bei einem modernen Gebäude wird das schon schwieriger und bei einem, das gefühlt keiner klaren Form folgt, noch mehr.

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Guggenheim-bilbao-jan05” by User:MykReeve on 14 January, 2005. – Own work. Licensed under CC BY-SA 3.0 via Commons.

Die Referentin nahm sich also eine Seite nach der anderen vor bzw. ging mit uns einmal ums Gebäude rum. Auf dieser Seite kann man die ersten Skizzen von Gehry sehen, einen computergenerierten Aufriss und herrliche Aufnahmen der Skelettbauweise. Auf der Guggenheim-Seite sieht man ebenfalls ein Bild aus der Bauzeit; ein ähnliches sahen wir gestern im Kurs und stellten fest: Die Säule, die heute das Dach über der Terrasse an der Nordseite (das ist die Seite zum Wasser hin) stützt, fehlt hier. War sie überhaupt nötig? Steht sie da heute nur, weil das Dach vielleicht doch so aussah, als könnte es eine Stütze vertragen, auch wenn es anscheinend auch ohne hielt? Wir waren uns einig, dass das Gebäude ohne Säule besser ausgesehen hätte, aber das ist natürlich Jammern auf hohem Niveau.

Ich erwähnte bereits, dass ich wirklich kein Gehry-Fan bin, aber das Guggenheim Bilbao finde ich wunderschön. Ich mag allerdings nur die langgezogene Nordfassade. Die Südfassade – das ist die, wo die meisten Menschen reingehen, denn die Seite zeigt zur Innenstadt von Bilbao – ist mir schon wieder zu zerfasert, obwohl Jeff Koons’ Puppy natürlich viel wieder wettmacht. Die Ost- und Westseite sind fast zu vernachlässigen, sie bestehen viel mehr aus dem beigefarbenen Sandstein als aus den titanfarbenen Kacheln, die das Gebäude für mich so hinreißend machen. Seit ich Louise Bourgeois im Haus der Kunst gesehen habe, macht mir auch die neun Meter hohe Maman keine Angst mehr, die nördlich steht. Das dritte Kunstwerk am Museum kannte ich nicht, das ist die Nebelskulptur Fog von Fujiko Nakaya, die laut Referentin einmal pro Stunde inszeniert wird.

Wir sprachen auch darüber, welche Assoziationen das Gebäude weckt. Genannt wurden Schiffsbug, Fischhaut, ein gestrandeter Wal, eine Rosenknospe (für das Gebilde oberhalb der überdachten Terrasse mit der ollen Säule). Ich hatte ausnahmsweise mal keine gegenständlichen Assoziationen; mich fasziniert bei dem Gebäude, dass es die Erde und den Himmel durch den Sandstein und die reflektierende Hülle übernimmt.

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Birds Nest at Night” by chumsdock cheng – originally posted to Flickr as Birds’ Nest at Night. Licensed under CC BY-SA 2.0 via Commons.

Nach der Uni fuhr ich ins Zentralinstitut für Kunstgeschichte, um weiter über Anselm Kiefer zu lesen. Ich fand auch einige sehr gute Texte, war aber irgendwie hibbelig, jetzt doch erstmals genauer über das Gebäude zu lesen, über das ich Anfang Dezember referieren werde: das Nationalstadion in Peking von Herzog & de Meuron (die auch die Allianz-Arena gebaut haben). Praktischerweise haben die Jungs auf ihrer Website schon eine Auswahlbibliografie und auch die technischen Daten, die ich brauche. Trotzdem suchte ich noch weitere Literatur, fand (natürlich) welche und bestaunte eine Stunde lang die unglaubliche Fassade des Stadions. Auf der Website der Mitentwickler (ich glaube, die haben die Statik berechnet) sieht man ganz klein den Umgang, also den begehbaren Zwischenraum zwischen der Fassadenstruktur und dem eigentlichen Baukörper. Darauf bin ich jetzt doch sehr neidisch, denn bei der Allianz-Arena ist das Außen total hui und wird auch nie langweilig, weswegen ich bei jedem Besuch die rote Außenhülle instagramme, aber von innen ist das Ding fürchterlich banal und eher pfui. Zweckmäßig halt. Trotzdem. Mpf. In einem Artikel fand ich ein etwas größeres Bild, auf dem der Fußboden des Umgangs zu sehen war – das war ein Steinfußboden! So mit Mustern! China hat dafür Geld, aber beim FC Bayern latschen wir auf grobem Asphalt oder Beton. Ich bin verstimmt.

Edit: Ein freundlicher Leser, der gerade vor zwei Wochen in Peking war, schreibt mir: „Der Boden des Stadions ist nicht aus Stein, sondern Beton. In den frischen Beton (farbig!) hat man ein Relief gedrueckt und so aushaerten lassen. So kommt die Struktur auf die Oberflaeche.“

(Danke für die Korrektur. Aber immer noch mpf wegen schmuckloser Allianz-Arena.)

Beim Googeln nach Bildern für diesen Blogeintrag bin ich auf diese 45-minütige Doku von National Geographic gestoßen, die ich noch anschauen will. In diesem Zusammenhang: Hat irgendjemand diesen Film auf DVD?

Nachdem ich in den letzten Wochen und Monaten alle Friends-Folgen nochmal geguckt habe, hatte ich Lust auf eine weitere alte Serie, möglichst eine, die ich noch nicht mitsprechen kann. Also fragte ich das allwissende Twitter-Orakel nach irgendwas in Richtung Gilmore Girls – fluffig, unanstrengend, darf gerne rumkitschen. Die folgenden Tipps dienen mir zur Gedächtnisstütze, damit ich in sechs Wochen nicht noch mal fragen muss: Everwood (gestern erste Folge geguckt, gefällt sehr!), Bunheads (die hatte ich schon mal angefangen, aber so richtig warm bin ich nicht mit ihnen geworden. Es schwärmen aber quasi alle davon, also werde ich der einen Staffel wohl noch eine Chance geben), Men in Trees, Cedar Cove, The Astronaut’s Wives Club, Chasing Life, Being Erica und Heartland. Alle anderen Tipps kannte ich schon. Danke fürs Mitspielen!

Abends kam F. vorbei und wie immer, wenn wir „nur noch ein kleines Gläschen“ trinken wollen, ist eine Flasche leer. Aber dafür sind die Flaschen ja da. Gestern gab es diesen äußerst schmackhaften Blaufränkisch.

Tagebuch Donnerstag, 5. November – Crash and burn and cry and grieve

Einer dieser Tage, wo mich eine Kleinigkeit auf dem falschen Fuß erwischt und die ganze schöne gut gelaunte Fassade den Abgang macht. Ich las mal wieder über Wagner, stieß auf ein Buch, das interessant klang, suchte vergeblich nach ihm im OPAC der Unibibliothek, dann in dem der Stabi, wo ich es fand und wo vor allem das Titelbild abgebildet war. Sobald ich es sah, wusste ich, das hast du, du Knalltüte, das müsste nebenan im Regal stehen, wo du anscheinend echt keinen Überblick mehr darüber hast, was dir gehört. Ich ging also nach nebenan, guckte in der Musikecke, in der Biografienecke, etwas verwirrt in der Geschichtsecke, bis mir einfiel: Das Buch hatte in Hamburg nicht im Regal gestanden. Das lag auf dem riesigen Stapel ungelesener Bücher, der sich seit drei Jahren nicht mehr bewegt hatte bis auf ganz wenige Bücher, die ich mit nach München genommen hatte, um sie zu lesen.

Im Nachhinein unter „dumm gelaufen“ abgelegt: Sobald ich Bücher in München gelesen hatte, habe ich sie wieder nach Hamburg geschleppt, um sie ins dortige Regal zu stellen – nur um sie im September wieder in Umzugskisten zu packen und zurückzutransportieren. Der Stapel ungelesener Bücher wanderte allerdings nicht in die Umzugskisten; dort kam meine Taktik „Liegt hier seit drei Jahren rum und wurde weder vermisst noch benutzt – kommt weg“ zum Einsatz. Also warf ich ein nagelneues Buch in die Tonne, nur um es zwei Monate später für die Uni zu suchen. Und sobald mir klar was, was mit ihm passiert ist, fing ich an zu weinen, weil es mich an den Umzug erinnerte, an die Trennung, an den Kerl, an das Vorher.

Dieser ganze Trennungsrotz überfordert mich. Ich weiß, dass der Kerl mich wochenlang auf Twitter gemutet hatte, weil er mich nicht lesen konnte. Ich hatte ihn kurzzeitig auf Facebook entfreundet, weil er mir da ständig überraschend in die sehr ausgewählte Freundestimeline hüpfte. Jedes Instagrambild aus Hamburg tut weh, jedes Twitterfoto, auf dem seine Hände zu sehen sind, an die sich mein Körper noch gut erinnert, jeder Swarm-Check-in bei Orten, die ich mit ihm verbinde. Und trotzdem will ich nicht auf Social Media verzichten, weil ich wissen möchte, ob es ihm halbwegs gut oder wenigstens nicht allzu scheiße geht, weil ich mir Sorgen mache oder weil ich mich freue, wenn er gute Laune hat, weil es schön ist, wenn er gute Laune hat. So mochte ich ihn am liebsten, und ich vermisse seine schlechten Witze sehr.

Gleichzeitig gibt es aber nun hier einen Nachfolger, was mich immer noch überrascht, weil ich schlicht nicht damit gerechnet hatte, mich so schnell wieder neu zu verlieben. Eigentlich war ich nach der Trennung im März davon ausgegangen, ein Jahr heulend in der Gegend rumzuhängen (das könnte klappen) und dann fünf Jahre lang alle Internet-Singlebörsen durchzuspielen (ich hoffe, das bleibt mir erspart). Dass ich nur wenige Wochen nach der offiziellen Trennung, die wahrscheinlich schon längst inoffiziell vollzogen war, ohne dass wir beide das mitbekommen haben, jemand anderen lieben würde, war nicht vorgesehen – und es überfordert mich an manchen Tagen immer noch. Nicht die Liebe, die ist super. Aber der Abschied von der ehemaligen Liebe, die immer noch eine tiefe Zuneigung ist, der überfordert mich.

Vielleicht auch, weil die beiden Welten nicht mehr so schön klar voneinander getrennt sind: Hamburg war Kerl, München war Studium. Jetzt ist München Studium und neuer Mann, und mein Tag besteht nicht mehr nur aus Lernen, Tee trinken, grinsend durch München radeln oder beim ehemaligen Mitbewohner auf der Couch Bier trinken, sondern da ist jetzt jemand, ein Gefühl, eine Aufgabe, die bisher nach Hamburg gehört hat. Ich vermisse meine alten Strukturen, obwohl sie mich anscheinend so genervt haben, dass ich sie ändern wollte (Studium, in eine andere Stadt ziehen). Ich muss mir neue Strukturen schaffen, neue Zeitabläufe, ich muss damit klarkommen, dass ich jetzt hier bin und nicht mehr hier und dort.

An Tagen wie gestern würde ich am liebsten die leeren Umzugskisten, die noch im Keller stehen, gleich wieder vollpacken und ganz woanders hinziehen, wo ich kein soziales Netz habe, Dresden, Weimar – ich habe den Osten noch nicht aufgegeben und ich würde da gerne mal hin. Irgendwo das MA-Studium zuende machen, dabei quasi nix von meinen Ersparnissen für Miete investieren (gerade mal geguckt: Für das Geld, was ich hier in München für meine 44 Quadratmeter zahle, kann ich in Weimar in einem Altbau mit vier Zimmern und zwei Bädern wohnen), alleine sein, Serien gucken, lernen, Freundschaften übers Internet halten, fertig. Vielleicht fehlt mir das zeitweilige Alleinsein, also das richtig Alleinsein, nicht nur das „Ich hab hier in München quasi Singlestatus, aber in Hamburg wartet jemand auf mich“. Vielleicht hätte der Einschnitt klarer sein müssen, vielleicht hätte es überhaupt einen Einschnitt geben müssen und nicht so eine wachsweiche Statusänderung wie ich sie vollzogen habe, aus einer Stadt einfach in eine andere, die ich schon kenne, zu einem Mann, den ich schon kenne. Vielleicht trauere ich deshalb so komisch in Schüben in der Gegend rum, weil ich nicht richtig zum Trauern gekommen bin.

Und gleichzeitig bin ich wütend. Wütend über uns, weil wir es nicht gebacken gekriegt haben, wieder zusammenzufinden, wütend über ihn, weil er noch in unserer wunderschönen Wohnung wohnt, wo verdammt noch mal Platz für meinen ungelesenen Bücherstapel war, wütend auf mich, weil ich gefühlt diejenige war, die gegangen ist, wütend auf München, weil’s hier so schön ist, wütend auf die Uni, weil sie meinen Plan durchkreuzt hat, wieder Werbung machen zu wollen, wütend auf den neuen Mann, weil er mir sorgenvoll niedliche Pinguinbilder schickt, während ich weine und wütend bin und jetzt keine Pinguinbilder brauchen kann, weil ich dann nicht mehr weinen und wütend sein kann. Und dann denke ich, wieso ist es erst 13 Uhr und ich sitze hier mit Tee am Schreibtisch, wieso ist es nicht zehn Uhr abends, wo ich Pizza bestellen könnte, damit der Wein im Magen nicht so alleine ist?

Und dann schreibe ich das alles auf und putze mir die Nase und lese weiter über Wagner. Bis mich wieder eine Kleinigkeit umhaut.

Das wird ein tolles Jahr.

Tagebuch Mittwoch, 4. November – Ausfall

Die Dozentin unterrichtete uns am frühen Vormittag per Mail, dass unser Seminar über die Ost-West-Dialoge leider ausfallen müsse. Meine Reaktion: WHAT NOOOOO! Was mich in dieser Deutlichkeit etwas überraschte. Klar mache ich die Uni gerne, aber genauso gerne sitze ich am Schreibtisch oder in der Bibliothek (oder liege im Bett, gucke Serien und esse Ritter Sport Nugat, bei der es mich wahnsinnig macht, dass sie nicht Ritter Sport Nougat heißt). Aber auf das Seminar freue ich mich wirklich sehr. Ich merke immer mehr, wie mich die Geschichte der jungen Bundesrepublik interessiert, vermutlich auch, weil wir heute noch die Wellen spüren, die die damalige Staatsbildung ausgelöst hat. In diesem Zusammenhang: Ich müsste wirklich mal über meinen Besuch im neuen NS-Dokumentationszentrum hier in München schreiben, das hat zu dem Thema sehr viel zu sagen.

Statt in die Uni zu gehen, traf ich mich mit meinen Referat-Mitstreiter, mit dem ich bis jetzt nur wolkige Mails ausgetauscht hatte. Gestern zurrten wir den Streitplan fest, mit dem wir unsere Kommiliton*innen Anfang Dezember beglücken wollen. Praktischerweise studiert er Literaturwissenschaft, weswegen er sich sehr gerne mit der deutschen Mythologie à la Nibelungenlied, Eschenbachs Parzifal, Grimms Märchen und Volksliedern beschäftigen möchte, während ich viel lieber auf die Bilder gucke und mich mit dem politischen und kulturellen Umfeld Ende der 1960er Jahre auseinandersetzen möchte. Passt also. Für die Hausarbeit muss ich mir das natürlich auch noch alles anständig anlesen und nicht nur so oberflächlich wie jetzt gerade, aber dann profitiere ich hoffentlich von seiner Bibliografie, genau wie er gestern von meiner profitiert hat, denn ich hatte schon deutlich mehr gemacht als er.

Abends die letzten Reste des samstäglichen Lammbratens verspeist, einfach kleingeschnitten mit Kartoffeln, Bohnen und Zwiebeln in die Pfanne geworfen und ein bisschen Kräuterquark dazu gemacht. Überraschend desinteressiert am Fußballspiel zwischen Bayern und Arsenal gewesen; nachdem das ZweiNull gefallen war, las ich lieber weiter über die Verwendung der Nibelungensage und der Wagner’schen Musik im NS-Staat.

Ebenfalls gelesen:

– Anika Meiers Hinweise an Museen, dass TweetUps echt nicht mehr der heiße Scheiß sind. Diese Form der Auseinandersetzung mit Kunst habe ich eh nie verstanden – wenn ich eine Führung kriege, will ich zuhören und gucken und nicht tippen.

– das Blog zum Seminar Software für Kunsthistoriker im WS 2015/16 an der LMU, von dem ich mir einige für mich hilfreiche Links verspreche.

– und den Artikel, den gestern vermutlich eh schon alle gelesen haben: Wie falsche Bilder von Flüchtlingen entstehen im BildBlog.

Tagebuch Dienstag, 3. November – „Das Vorsprechen“

In den Kammerspielen, genauer gesagt, in der Kammer 2, der ehemaligen Spielhalle, fand gestern das Absolventenvorsprechen der Otto-Falckenberg-Schüler*innen statt. Normalerweise geschieht das vor eingeladenem Publikum, also Dramaturg*innen und Intendant*innen, die neue Darsteller*innen für ihre Häuser suchen. Dieses Mal durften auch Laien rein und sich zusammen mit den Profis angucken, wie die Schauspieler*innen sich präsentieren. Das waren quasi aufgeführte Bewerbungsmappen. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie derartige Veranstaltungen sonst so aussehen, aber ich mochte es, mal kein Stück von Anfang bis Ende zu sehen, sondern viele kleine Szenen nacheinander, die jeweils einen Menschen und sein Können als Zentrum hatten.

Die Darsteller*innen kannte ich alle aus Glow! Box BRD, das mir sehr gut gefallen hatte. Einige waren mir sofort wieder präsent, ich hatte sie noch von ihrer anderen Rolle im Ohr, und da fiel mir auf, wie sehr sie mich anscheinend schon bei ihrem ersten Auftritt beeindruckt hatten. Gleichzeitig war mir gestern aber dann auch bewusst, dass ich einige von ihnen vielleicht zum letzten Mal in München sehen werde, weil sie eventuell Angebote von außerhalb bekommen werden. Das fand ich interessant – zu merken, dass einem Stimmen und Körper durch gutes Handwerk so schnell etwas bedeuten können.

Vielleicht liegt es auch daran, dass ich Theater gerade wiederentdecke. Ich hatte in der Schule ein Theater-Abo, wie sich das für den bildungsbürgerlichen Mittelstand gehört, aber nach dem Abi ging ich kaum noch. Erst seit ich in München bin, habe ich ab und zu mal ein Ticket gekauft und es hat mir immer gut gefallen. Seit ich mit F. zusammen bin, gehe ich wieder regelmäßiger, denn der Mann sitzt quasi jeden zweiten Abend vor irgendeiner Bühne, und neuerdings kauft er einfach mal zwei Tickets statt nur eines, wenn er glaubt, mir könnte ein Stück gefallen, und schleppt mich mit. Das hat bis jetzt auch bis auf eine Ausnahme hervorragend geklappt; ich fand jede Aufführung spannend und befruchtend und selbst die eine, die ich komplett blöd fand, hat sich gelohnt, weil in ihr ein paar szenische Ideen drin waren, die mein inzwischen bildgeschulter Kopf als „clever“ abgespeichert hat.

Ich mag die Unmittelbarkeit sehr, mit der sich im Theater vor mir etwas entfaltet. Ich empfinde das inzwischen als viel gewaltiger als das Kino, in dem ich 25 gute Jahre verbrachte, das mir in letzter Zeit aber zunehmend banal vorkommt. Ich mochte am Film seine Möglichkeit, mich zu fesseln, mich zum Lachen und zum Weinen zu bringen. Aber selbst wenn ich mich völlig in einem Film verloren hatte, wusste ich im Nachhinein, dass mich ein Soundtrack traurig gegeigt hat, teure Special Effects mich den Atem haben anhalten lassen und die Schauspieler*innen die Möglichkeit hatten, die Szene 25 Mal zu drehen, bis sie perfekt ist.

Im Bayreuther Parsifal von Stefan Herheim merkte ich sehr deutlich, dass mich direktes Spiel genauso fesseln kann, mich genauso zum Weinen und zum Atemanhalten bringen kann. Und in jeder Theateraufführung merke ich es wieder, und es fühlt sich noch neu und aufregend an, wie ein Geschenk, das vor einem ausgepackt wird. Und es braucht nicht mal die Wunderkerzen von Industrial Light & Magic, es reicht ein einziger Spot, eine leere Bühne und eine Person, die weiß, was sie tut, um mich um den Finger zu wickeln.

Dementsprechend spannend fand ich die einzelnen Darbietungen gestern. Ich weiß nicht, nach welchen Kriterien sich die Schüler*innen ihre Szenen aussuchten; natürlich soll das eigene Können bestmöglich präsentiert werden, aber da fing es schon an: Versuche ich so viel wie möglich in eine Szene zu packen? Zeige ich, dass ich die Klassiker genauso drauf habe wie modernes Theater? Wieviel Körperlichkeit führe ich vor, wie wichtig sind Zurückhaltung und stille Momente, bin ich komisch, bin ich wütend, bin ich laut, bin ich alles? Geht das überhaupt?

Ich möchte mir nicht anmaßen, die Leistungen zu beurteilen, weil ich das schlicht nicht kann, dafür fehlen mir noch durch ständiges Vergleichen geschulte Augen und Ohren. Mich haben aber einige Dinge sehr beeindruckt, aus ganz verschiedenen Gründen.

Merlin Sandmeyer begann mit einer Szene aus Einige Nachrichten an das All von Wolfram Lotz; hier zu lesen, und ein Stück, das mit den Worten „Wir befinden uns in einer Explosion, ihr Ficker“ beginnt, kann nicht schlecht sein. Sandmeyers Szene steht auf S. 18 bis 20. Ich mochte an ihm sein komisches Timing und wie er den kompletten Bühnenraum ausnutzte, wenn auch nur, um zu zeigen, dass ihm klar ist, dass er eine ganze Bühne für sich hat, also rennt einmal exakt außen ums Bühnengeviert herum, um den Juroren klarzumachen, dass er sich Raum nehmen kann. Ich mochte die zwei Ebenen seines Spiels; die eine war die völlig überzogene fürs Publikum – guck mal, was ich mir für Gesten im Unterricht angeeignet habe –, die zweite war die, in der er sein Handwerk eben nicht so offensichtlich raushaut. Als die imaginäre Fernbedienung für den imaginären Beamer zickte, klopfte er so schnell und kurz aus dem Handgelenk dagegen, dass ich vergaß, dass der Mann gerade spielt. Und ehrlich gesagt hat mich auch der Text beeindruckt, bei dem man kaum was zum Festhalten hat beim Auswendiglernen, weil es eine einzige lange Aufzählung ist.

Jonathan Berlin nahm sich Hamlet vor und bei ihm habe ich zum ersten Mal kapiert, wie so ein Vorsprechen funktioniert. Man bettet, wenn man mag, die eigentliche Szene in eine andere ein, die noch weitere Facetten von einem zeigt. Berlin begann den bekannten Monolog mit einer Dankesrede wie auf einer Oscar-Verleihung und zeigte sowohl seine Komik als auch seine körperliche Ausdauer, weil er ewig um die Bühne rannte, während er immer wütender wurde, weil ihm das Mikro abgedreht wurde. Dabei wurde er leider etwas unverständlicher, aber das machte er mit dem ollen Dänen wieder wett. Denn sein Requisit auf der Bühne war neben dem Mikro ein Sack voller Erde, vor dem er schließlich atemlos kniete, „Sein oder Nichtsein“ sagte und sein Gesicht in eben diese Erde drückte. Gefühlt minutenlang. Wir konnten ihm dabei zusehen, wie sein Körper rot anlief, weil er keine Luft bekam, wie seine Schultern sich verzerrten, wie er nur noch aus Muskeln bestand, bevor er den Kopf endlich wieder hochriss und weiter monologisierte. Ich weiß immer noch nicht, ob ich das total quatschig oder total toll fand, aber ich denke immer noch drüber nach.

Daniel Gawlowski brachte es fertig, einen Pädophilenmonolog aus Kroetz’ Requiem für ein liebes Kind mit einer Gesangsdarbietung von Sexy and I know it zu verknüpfen und das funktionierte unheimlicherweise sehr gut. Seine Darbietung fand ich perfekt, weil sie viele Facetten von ihm zeigte, sein komödiantisches Talent, sein dramatisches, seine Körperlichkeit. Er kam mir überhaupt von allem am rundesten vor. Aber wie gesagt, ich hab keine Ahnung.

Caroline Tyka überraschte mich: Ihre Szene sollte laut Programmheft die Elektra sein, aber erstmal kniete sie sich hin und sang Florence + The Machine. Und dann auch noch ein Lied, das ich fürchterlich schwierig zu singen finde. Ich sang im Kopf mit und guckte ihr zu, wie sie sich langsam steigerte, ihre Stimme kräftiger wurde, lauter, ich folgte ihr blindblöd, wo immer sie mich hinhaben wollte – und plötzlich sagte sie klar, leise, deutlich: „Wo bist du?“ und war nicht mehr Florence, sondern Elektra. Und ich erwischte mich dabei, „wow“ zu denken. Im Monolog verlor sie mich dann wieder etwas, weil ich mich nicht auf die Worte konzentrieren konnte oder wollte, aber kurz vor Schluss stand sie im Bühnenhintergrund, schlicht in Schwarz gekleidet, barfuß, die silbernen Pumps in der Hand, seitwärts zu uns gewandt, und ich hing an ihren Lippen und wollte, dass sie weitersprach, ganz egal was, so sehr hatte sie mich alleine durch ihre Präsenz.

Auf Irina Sulaver hatte ich mich am meisten gefreut, denn in die Dame hatte ich mich in Glow! Box BRD ein bisschen verknallt. Ich mochte an ihr, dass sie mit einer Szene aus Sathyan Rameshs Die ganzen Wahrheiten ein modernes Stück spielte, nachdem ich von ihren drei Mitstreiterinnen bisher Die Glasmenagerie, Die Möwe und eben Elektra gesehen hatte. Sie war auch genauso präsent und unterhaltsam und faszinierend wie ich sie beim ersten Mal kennengelernt hatte, weswegen ich mir jetzt wünsche, sie dann doch mal in was Klassischem zu sehen. Ich kenne von ihr jetzt nur die eine Facette, was ich im Nachhinein etwas bedauert habe, wobei das natürlich an mir liegt. Das Stück würde ich übrigens gerne mal komplett sehen; ein Satz – eine Klage über die mies bestückten Minibars in Hotels – „Immer nur Pikkolo und Ültje!“ wird jetzt zu meinem rallying cry, und die wunderbare Wortschöpfung „Schlemmerscholle“, die aus der vergeblichen Suche nach dem richtigen Wort, das ein Tiefkühlgericht mit Fisch bezeichnet, entstand, kommt jetzt auch in mein Standardvokabular.

Das Vorsprechen findet noch viermal statt – heute abend zum Beispiel. Guck-Empfehlung.

Edit: Wie die Profis von der Nachtkritik den Abend sahen.

Tagebuch Montag, 2. November – Weiter im Text

Ich warte gerade auf ein Buch über deutsche Mythologie aus der Stabi, aber die Grand Dame des Bücherleihs lässt sich ungern hetzen. Die durchschnittliche Wartezeit beträgt drei Tage, wenn ein Wochenende dazwischen liegt, auch gerne mal fünf, was sehr doof ist, wenn man nur zwei Wochen Zeit für ein Referat hat. So eilig habe ich es derzeit netterweise nicht, mein erstes Referat über Anselm Kiefer und die deutsche Mythologie ist erst am 25. November, aber wer mich kennt, weiß, dass ich JETZT SOFORT fertig sein möchte, denn man weiß ja nie, ob man nicht wieder krank wird oder die Vogonen vorbeikommen. Außerdem setzen mein Referatpartner und ich uns am Mittwoch erstmals anständig zusammen und bis dahin hätte ich halt gerne was Hübsches, was ich ihm vortanzen kann.

Das Stabibuch liegt aber noch in irgendwelchen Kellerregalen, weswegen ich am Freitag in der Historicumsbibliothek war, um es dort im Magazin vorzubestellen, denn auch dort steht es ausnahmsweise nicht im Regal wie sonst quasi alles. Am gestrigen Montag lag es für mich bereits und ich stand um kurz nach 9 am Tresen, um es hibbelig in Empfang zu nehmen.

Meine Referate laufen meist so: Ich habe vom Thema prinzipiell gar keine oder nur den Hauch einer Ahnung, weswegen ich ein, zwei Wochen wild in der Gegend rumlese, alle Bücher bestelle, die ich tragen kann und Aufsätze ausdrucke, so weit die Tinte trägt. Ich habe meist relativ schnell eine Ahnung, wo ich hin will (außer beim Frauenchiemsee-Referat) und kann dementsprechend gezielter lesen. Beim gezielten Lesen passiert es dann aber grundsätzlich, dass ich noch viel tollere Ideen habe oder auf noch viel spannendere Dinge stoße und den ersten Plan wieder knicke. So war ich bis vor einigen Tagen der Meinung, ein Bild zu besprechen, würde reichen. Inzwischen glaube ich aber, wir sollten dem Kurs mehrere zeigen, die Kiefers Auseinandersetzung mit der deutschen Mythologie belegen.

Und dann fiel mir letzte Woche auch noch siedendheiß ein: Was ist überhaupt deutsche Mythologie? Erster Gedanke: die Nibelungen. Zweiter Gedanke, nach kurzem Überlegen: Märchen und Volkslieder. Dann gegoogelt und das quasi bestätigt gefunden. Dementsprechende Lektüre gesucht. Wo ich mich in der ersten Woche fast ausschließlich mit der Ikonografie des Parsifal-Triptychons auseinandergesetzt habe, bin ich inzwischen bei Fragen wie: Wieso hat sich Kiefer eher mit der Wagner’schen Interpretation von Mythologie auseinandergesetzt als mit dem Eschenbach’schen Werk? In seinen Parsifal-Bildern zitiert er das Libretto, was ich für einen Kracherhinweis halte. Ein weiteres Bild von ihm heißt Nothung – so nannte Wagner Siegfrieds Schwert, das in der Nibelungensage Balmung hieß. Dann muss ich eventuell aufdröseln, wieso Wagner den Stoff überhaupt umschrieb und damit quasi eine weitere Mythologie schuf.

Weitere Fragen: In welchem politischen Klima sind wir eigentlich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, als es noch einen Riesenzirkus um Kiefers Bilder gab, weil sie an irgendwelchen Tabus rührten? An welchen genau? Mir spukt Adorno im Kopf herum, nach dem man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne; wie sieht es allerdings mit Bildern aus, vor allem mit denen, die eine Ikonografie nutzen, die nun nicht mehr unschuldig ist?

In einem sehr spannenden Aufsatz fand ich das hier:

„At any rate, the issue is not whether Kiefer intentionally identifies with or glorifies the fascist iconography he chooses for his paintings. I think it is clear that he does not. But that does not let him off the hook. The problem is in the very usage of those icons, in the fact that Kiefer’s images violate a taboo, transgress a boundary that had been carefully guarded, and not for bad reasons, by the postwar cultural consensus in West Germany: abstention from the image-world of fascism, condemnation of any cultural iconography even remotely reminiscent of those barbaric years. This self-imposed abstention, after all, was at the heart of Germany’s postwar reemergence as a relatively stable democratic culture in a Western mode.“

(Huyssen, Andreas: „Anselm Kiefer: The Terror of History, the Temptation of Myth“, in: October 48 (1989), S. 25–45, hier S. 29/30)

Kiefer schuf Bilder, die es nach 1945 nicht mehr geben sollte – womit er nicht einverstanden war. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass die Nationalsozialisten eine deutsche Ikonografie unbenutzbar gemacht hatte, indem sie aus literarischen und bildnerischen Traditionen pure Deko machten, die die Zeit nach 1945 quasi bilderlos zurückließ. Huyssen nennt diesen Zustand „a kind of enforced minimalism, ground zero of a visual amnesia“ (S. 34). Allerdings war nur die bildnerische Kunst von dieser Amnesie betroffen: In Literatur und Film wurde sich problemlos an der NS-Zeit abgearbeitet, nur die Kunst floh zu ZERO, Fluxus, Sigmar Polke und Gerhard Richter (S. 34).

In die gleiche Kerbe schlägt Walter Grasskamp, dessen Buch Die unbewältigte Moderne ich schon einmal verbloggt habe. Der folgende Ausschnitt zeigt vermutlich ganz gut, in welche Richtung unser Referat geht, aber ich will das alles noch argumentativ unterfüttern:

„Die im Parsifal formulierte Heilserwartung und der Ehrenkodex der Nibelungentreue sind durch diese Okkupation historisch diskreditiert, der Mißbrauch durch die Faschisten hat diese und andere Stoffe und Haltungen stigmatisiert. Gemeinsam mit der Erinnerung an die zwölf Jahre Tyrannei fielen auch diese Stoffe der Verdrängung anheim; wer sie aufgriff, rührte an ein Tabu: Was von den Faschisten hatte mißbraucht werden können, konnte daran nicht ganz schuldlos gewesen sein, so wollte es die Logik der Verdrängung. Noch in heutigen Reaktionen auf Kiefer schlägt sich dieses schlechte Gewissen nieder, das in Westdeutschland lange Zeit Surrogat eines kulturkritischen Bewußtseins war. Man wirft ihm seine Themen vor, ohne zu bemerken, daß damit nur ein Tabu fortgeschrieben wird, welches Kiefer zu Recht in Frage stellt, das Tabu, mit dem jene Stoffe der deutschen Überlieferung belegt worden sind, welche die letzten Lieferanten mißbraucht haben.“

(Grasskamp, Walter: „Anselm Kiefer. Der Dachboden“ in: Ders.: Der vergeßliche Engel. Künstlerporträts für Fortgeschrittene, München 1986, S. 7–22, hier S. 13/14.)

Außerdem denke ich über das Deutschsein und die Verdrängung nach, was Ende der 1960er auch durchaus eine Frage war. Steven Henry Madoff nannte 1987 in Art News die Bundesrepublik „the land of forgetting that had thrown itself into a present tense of postwar redevelopment“. Auf Handzetteln, die zur Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele 1951 (interessanterweise mit dem Parsifal) verteilt wurden, stand der großartig-ignorante Satz: „Im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele bitten wir von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen.“ Das Zitat kannte ich, weil ich Brigitte Hamanns Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth natürlich im Regal stehen habe.

„1968: The primary desire of West Germans was to assert some degree of independence from the American values and culture that had shaped the Federal Republic since its inception, even though many of those values were stil held in high regard. As a result, the notion of German identity that had been sterilized by two decades of West German conservativism was revitalized – what, after all, did it mean to be German in the absence of suitable role model, either German or American?“

(Hughes, David A.: „Playing it by the Book. The Early Work of Anselm Kiefer“, in: Zuckermann, Moshe (Hrsg.): Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIV. Geschichte und bildende Kunst, Göttingen 2006, S. 232–253, hier S. 238.)

Ich habe derzeit also viele Fäden in der Hand, aber noch keine richtige Ahnung, wie ich daraus einen Pulli stricke. Momentane Lieblingsbilder für die Präsentation: Parsifal II, Siegfried vergisst Brünnhilde, Maikäfer flieg. Mal sehen, was mein Partner sagt.

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In der Barockvorlesung Berninis Sant’Andrea al Quirinale fertiggeguckt, dann da Cortonas Fassaden von Santissima Luca e Martina und Santa Maria della Pace bewundert. Mit den römischen Kirchen sind wir jetzt durch, nun folgen die Paläste. Natürlich kamen zuerst die Barberinis dran, und zum Schluss durfte ich nochmal Borromini hachzen, denn seine Fassade vom Palazzo di Propaganda Fide ist großartig.

Die Straße, in der Borromini die Südfassade gestalten sollte, war und ist sehr eng, das heißt, man hat keinen Blickpunkt, von dem der oder die Betrachter*in mal so richtig schön in Ruhe frontal auf den Palast gucken kann. Man kann sich ihm nur seitwärts nähern. Also hat Borromini die Fassade so gestaltet, dass man beim Vorbeischlendern eine gewisse Dramatik und Dynamik spürt. Der erste Pilaster, an dem man vorbeikommt, ist angeschrägt und zieht einen quasi in die Fassadengestaltung hinein. Die Pilaster um die mittlere Travée neigen sich nach innen und öffnen so die Wand zum eigentlichen Eingang hin. Zusätzlich ist ein Teil der Fassade mal wieder konvex (Borromini, du One-Trick-Pony!), was im Zusammenspiel mit konkaven Elementen eine Bewegung erzeugt. An diesem Gebäude habe ich außerdem den Begriff des syrischen Bogens gelernt.

Nach der Vorlesung ging es wieder in die Bibliothek zur Mythologie, aber mangelnde Konzentration und ein knurrender Magen trieben mich gegen 16 Uhr nach Hause. Dort gab’s Reste, und ich las weiter Bücher und Aufsätze, unterbrochen nur von Teekochen und den neuen Folgen von The Affair und The Good Wife. Und dem Bedauern, nicht noch eine Stimme abgeben zu können. Ja, ich könnte mich jetzt dumm stellen („Huch, das hatte ich schon eingeworfen“), mach ich aber nicht.

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Tagebuch Sonntag, 1. November – Entspannung

Den Tag langsam und gemütlich zu zweit begonnen. Sehr spät gefrühstückt. Nachdem F. gegangen war, räumte ich den Rest des samstäglichen Abends weg, spülte und putzte gemächlich in der Wohnung rum, backte Kuchen because I can and because I had noch zwei große Äpfel und Zartbitterschokolade, die solo so langweilig schmeckt, dass man sie nur in Kuchen werfen kann. Wobei ich das nächste Mal, wenn ich dieses Rezept verbacke, die Schokolade ganz rauslassen werde, die hat mich gestern eher gestört.

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Ich trank viel Earl Grey mit Milch, las im Internet gefühlt 20 Artikel an und keinen zu Ende, guckte ein paar Episoden Episodes, tat nichts für die Uni und ging recht früh ins Bett. Sonntag halt. Ein schöner Sonntag halt.

Tagebuch 31. Oktober – Feines Fresschen

Spontan Lust auf ein bisschen mehr Kochen gehabt. Anstatt also zum Tengelmann nebenan zu gehen, um meine üblichen unscheinbaren Wochenendeinkäufe zu erldigen, fuhr ich in meine liebste Fressabteilung, die im Kaufhof am Marienplatz, wo ich eine Lammkeule (ich soll ja mehr Fleisch essen), Jakobsmuscheln, bergeweise frische Kräuter und Babyspinat erstand. Die restlichen Zutaten für mein Festessen hatte ich im Haus.

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Als Aperitif bekam F. meinen Lieblingscrémant vorgesetzt, der es zeitlich leider nicht zu unserem Podcast geschafft hatte, bei dem ich mit ihm punkten wollte. Ich mag die leichte Birnennote, wobei F. eher Apfel geschmeckt hat.

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Die Vorspeise war blitzschnell und simpel. Ich hatte noch eine Avocado rumliegen, weswegen ich überhaupt auf die Muscheln gekommen bin, weil ich mir die Kombi ganz schmackhaft vorgestellt hatte – zu recht. Butter erhitzen, ein paar angeknackte Knoblauchzehen dazu, so dass die Butter den Geschmack annimmt, die Jakobsmuscheln von jeder Seite so um die zwei Minuten braten, damit sie innen noch fast glasig bleiben. Alles mit Zitronensaft ablöschen, Muscheln zu Babyspinat und Avocado auf den Teller, Zitronenknoblauchbutter drüber, fertig. Mache ich garantiert noch mal, das hat mir gut gefallen: die weiche, cremige, kühle Avocado, der frische Spinat (der hätte noch kälter sein müssen) und die heiße, würzige und gleichzeitig so zarte Muschel.

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Dann gab’s meinen Lieblingsbraten, auf den ich total Lust hatte, auch wenn ich damit nicht meinen neuen schönen Bräter einweihen konnte, denn die Lammkeule gehört auf ein Blech. Frische Kräuter hacken (alles, was da ist), mit Olivenöl mischen, damit das Fleisch einreiben und für ein paar Stunden bei Zimmertemperatur rumstehen lassen. Dann mit ein paar ungeschälten Knoblauchzehen und ordentlich Öl auf ein Blech und bei 230 Grad braten. Pro 500 g Fleisch 15 Minuten rechnen und ab und zu mit dem Kräuteröl begießen, dann wird das Fleisch innen rosig und außen knusprig. Eine Viertelstunde vor Schluss warf ich noch ein paar Tomaten aufs Blech und mischte, während die Keule ruhte, den Bratensatz mit etwas Sahne (keine Lust gehabt, ein anständiges Sößchen so mit Reduktion und so weiter zu machen). Dazu gab’s Polenta mit eingelegten Tomaten und angerösteten Pinienkernen sowie grüne Bohnen.

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Den Wein brachte F. mit, den hatte er in Bilbao entdeckt und sich an ein Weingut erinnert, von dem wir in Amsterdam einen hervorragenden Weißwein hatten. Jetzt können wir sagen: Rotwein könnense auch. Mich erinnerte er an einen Brombeerbusch, der mit Kirschwasser übergossen wurde und einen winzigen Hauch Pfeffer mitgekriegt hatte. Im Mund ist er zunächst sehr trocken, macht sich dann aber richtig schön breit und bleibt noch ein bisschen bei einem. Schönes Zeug! (Und so bezahlbar!)

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Als Nachtisch gab’s meinen Lieblings-Apfelkuchen, der jedesmal wundervoll fluffig-fruchtig wird.

Ein Espresso für mich, der Rest Crémant für F., und während ich abwusch (das mache ich lieber alleine), ließ F. It’s the Great Pumpkin, Charlie Brown auf dem MacBook laufen. Das war ein schöner Abend.