Tagebuchbloggen 25.01.2010

Zwei Stationen zu weit mit dem Bus gefahren, weil ich das Kapitel noch zuende lesen musste. Zuerst gedacht: Komm schon, Leo, hör mit der Bienenanalogie auf, ich hab’s kapiert, aber dann ging’s einfach weiter und weiter und noch weiter, und irgendwann wollte ich gar nicht mehr aufhören, über Bienen zu lesen und sie zutiefst zu bedauern.

Für euch ABGETIPPT, weil Gutenberg den kompletten Bienenteil auslässt und bekannterweise doof klingt: Krieg und Frieden, Leo Tolstoi, dtv 2002, Übersetzung von Werner Bergengruen, Buch 2, Dritter Teil, das komplette Kapitel XX, Seiten 1160–62.

Falls jemand den Inhalt des Buchs gerade nicht auf dem Schirm hat: Krieg zwischen Frankreich und Russland (der große vaterländische Krieg), und Russland kämpft – teilweise bewusst, teilweise weil die Bewohner nicht anders konnten –, indem es zurückweicht und Napoleon so ziemlich alles überlässt bzw. hinter sich Feuer legt und Ernten vernichtet, um der französischen Armee keine Reserven zu bieten. Wir steigen in den Text ein, als Napoleon an der Stadtgrenze Moskaus steht und sich am Ziel seiner Wünsche sieht:

„Aber Moskau war verödet. Wohl waren noch Menschen in der Stadt, wohl war etwa ein Fünfzigstel der früheren Einwohnerzahl noch da, aber die Stadt war verödet. Sie war verödet wie ein dem Aussterben entgegengehender, weisellos gewordener Bienenstock.

In einem weisellos gewordenen Bienenstock ist kein Leben mehr, mag er einem oberflächlichen Blick auch noch ebenso lebendig wie andere Bienenstöcke vorkommen.

Ebenso lustig summen die Bienen in den heißen Strahlen der mittäglichen Sonne um den weisellos gewordenen Stock wie um andere, noch in vollem Leben stehende Bienenstöcke; der gleiche Honigduft geht weithin von ihm aus, und die Bienen scheinen noch ebenso aus- und einzufliegen. Man braucht aber nur genauer zuzusehen, um wahrzunehmen, daß in diesem Stock kein Leben mehr ist. Das Aus- und Einfliegen der Bienen ist doch anders als in lebendigen Stöcken, und dem Imker fällt es auf, daß der Geruch und die Geräusche doch nicht die gleichen sind. Klopft der Imker an die Wand des kranken Stockes, so antwortet nicht wie sonst das ganze tausendköpfige Volk der Bienen augenblicks mit einem gemeinsamen, zu einem einzigen Zischlaut verschmelzenden Summen, jenem gleichsam luftigen, lebendigen Klang, den die Bienen durch hastige Flügelschläge hervorbringen, wenn sie drohend die Hinterteile hochstrecken, sondern er bekommt nur ein unzusammenhängendes Summen zur Antwort, das mit hohlem Widerhall von einzelnen Stellen des verwaisten Stockes ausgeht. Aus dem Flugloch dringt nicht mehr wie früher der betäubende, aromatische Geruch des Honigs und des Giftes, es strömt nicht mehr die Wärme der unzähligen, nahe beieinander hockenden Tierleiber aus, sondern in den Honiggeruch mischt sich schon ein Geruch der Verlassenheit und Verwesung. Am Flugloch halten keine todesbereiten Krieger mehr Wache, jeden Augenblick gewärtig, das Hinterteil zu heben und Alarm zu blasen. Verstummt ist jener gleichmäßige und leise Ton, der das Pulsieren der Arbeit anzeigt und so viel Ähnlichkeit mit dem Geräusch kochenden Wassers hat, und es ist nichts zu hören als die dissonierenden, durch keinen Sinn miteinander verbundenen Laute der Ordnungslosigkeit. Scheu und gewandt fliegen schwarze, längliche Raubbienen in den Stock und kommen honigbeschmiert wieder heraus; wird es gefährlich, so machen sie sich davon, ohne zu stechen. Früher flogen nur Bienen mit Honiglasten hinein und trugen nichts, wenn sie hinausflogen; jetzt aber fliegen sie mit Honiglasten hinaus. Der Imker öffnet die untere Stocktür und sieht in den unteren Teil des Stockes hinein. An Stelle der früher bis zu dem Bienenwachs am Stockboden herabhängenden schwarzen Trauben honigtriefender, ganz von ihrer Arbeit hingenommener, einander an den Füßen haltender und mit unablässigem, betriebsamem Summen das Wachs ziehender Bienen irren verschlafene, keinen Saft mehr absondernde Tiere, durch keine gemeinsame Tätigkeit verbunden, hierhin und dorthin, am Boden und an den Wänden des Stockes. Sonst war der Stockboden sauber mit Klebestoff verkleistert und durch eifriges Flügelschlagen reingefegt, jetzt liegen kleine Wachshäufchen da, Exkremente, halbtote Tiere, die kaum mehr die Beinchen bewegen, und Leichen, die niemand wegschafft.

Der Imker öffnet die obere Klappe und sieht in den Kopf des Stockes. An Stelle der früher dichtgedrängt in Reihen über den Wabenlöchern hockenden und ihre Brut wärmenden Bienen sieht er nur noch die kunstvolle, komplizierte Arbeit der Waben, aber nicht mehr in der unberührten Jungfräulichkeit von einst. Alles ist verwahrlost und besudelt. Schwarze Raubbienen schlüpfen flink und verstohlen über die Waben; die Bienen des Stockes, eingetrocknet, kleiner geworden, welk und gleichsam gealtert, schweifen langsam umher, ohne den Räubern zu wehren, ohne irgendeine Willensrichtung zu bekunden. Das Gefühl für den Sinn ihres Lebens ist ihnen abhanden gekommen. Drohnen, Hornissen, Schmetterlinge fliegen unsachlich herum und stoßen gegen die Stockwände. Irgendwo zwischen den von toter Brut und von Honig gefüllten Waben knurrt ab und zu ein grimmiges Brummen auf. Gewohnheitsmäßig, gedächtnismäßig suchen zwei Bienen den Stammsitz ihres Volkes zu säubern und eine tote Biene oder Hummel wegzuschleppen und wissen doch selbst nicht, warum sie sich an diese Arbeit machen, die weit über ihre Kräfte geht. In einer anderen Ecke machen zwei alte Bienen sich träge miteinander zu schaffen, sie kämpfen miteinander oder sie säubern oder füttern einander und wissen selbst nicht, ob sie einander etwas Feindliches oder Freundliches antun sollen. In einem dritten Winkel wirft sich eine dichtgedrängte Schar über irgendein Opfer, schlägt und würgt es, und die ohnächtig gewordene oder schon tote Biene fällt langsam und leicht wie eine Flaumfeder zu Boden, oben auf den Leichenhaufen. Der Imker dreht zwei Waben in der Mitte des Stockes um, um nach dem Nest zu sehen. An Stelle der dichtgedrängten schwarzen Tausende, die, zu Kreisen zusammengeschlossen, Rücken an Rücken dasaßen und das Mysterium des heranreifenden, sich ständig wiedergebärenden Lebens hüteten, sieht er nur noch Hunderte von melancholischen, halbtoten, sinnlos vor sich hindämmernden Überbleibseln. Der weitaus größere Teil ist gestorben, ohne es selbst gewahr zu werden, hockend auf dem seiner Hut anvertrauten Heiligtum, das nun nicht mehr ist. Ein Geruch von Verwesung und Tod liegt über dem Nest. Einzelne rühren sich noch, richten sich auf, fliegen welk umher und setzen sich ihrem Feinde auf die Hand, haben aber nicht mehr die Kraft, ihn zu stechen und dabei ihren Tod zu finden; die übrigen, die schon Gestorbenen, fallen leicht zu Boden wie Fischschuppen. Der Imker schließt die Klappe, bezeichnet den Stock mit einem Kreidestrich, und wenn es soweit ist, räumt er ihn aus und vertilgt mit Feuer, was nachgeblieben ist.

So verödet war Moskau, als Napoleon müde, unruhig und verdrießlich am Kammerkollegien-Wall auf und ab wanderte und darauf wartete, daß mit dem Erscheinen einer Deputation einer äußerlichen, nach seinen Begriffen aber unumgänglichen Anstandsforderung Genüge getan wurde.

Nur in einzelnen Winkeln der Stadt rührten und regten sich die Leute immer noch gewohnheitsmäßig wie sonst weiter, ohne zu begreifen, wie sinnlos das geworden war.

Als Napoleon mit der nötigen Behutsamkeit eröffnet wurde, daß Moskau von den Einwohnern verlassen war, warf der dem Meldenden einen wütenden Blick zu, wandte sich ab und setzte seine Wanderung stillschweigend fort.

Bald darauf befahl er seine Equipage.

Er stieg mit dem Adjutanten vom Dienst ein und fuhr in die Vorstadt. „Moscou déserte! Quel événement invraisemblable!“(1) dachte er.

Er fuhr nicht in die Stadt, sondern ließ vor einem Gasthause der Vorstadt Dorogomilowka halten.

Le coup de théâtre avait raté!(2)“

1) „Moskau – verödet. Welch ein unwahrscheinliches Ereignis.“
2) Der Theatercoup hatte seine Wirkung verfehlt.