Tagebuch, Dienstag, 26. April 2016 – Strukturalismus, go home!

Morgens im schönen „Europäische Esskulturen nach dem Zweiten Weltkrieg“-Seminar verschiedene Theorien durchgehechelt. Unser Ausgangstext stammte von Schamma Shahadat, die Theorien von Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes, Norbert Elias, Georg Simmel und Mary Douglas erläuterte – unter der allen Theorien gemeinsamen Prämisse, dass sie Essen „sowohl als physiologischer Handlung als auch als scheinbar unbedeutender Materie Sinn“ verleihen. (Shahadat, Schamma: „Essen: ‚gut zu denken‘, gut zu teilen. Das Rohe, das Gekochte und die Tischsitten“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2012), S. 19–29, hier S. 20.)

Mit Lévi-Strauss und seinem kulinarischen Dreieck („le triangle culinaire“), das aus dem Rohen, dem Gekochten und dem Verfaulten besteht und Nahrung in einem ständigen Transformationsprozess beschreibt, stehe ich auch nach zwei Sitzungen etwas auf Kriegsfuß. Das mag aber daran liegen, dass ich mit allem, was aus der Linguistik kommt, auf Kriegsfuß stehe, weil ich es schlicht nicht verstehe. Wobei ich die Idee schon spannend finde, auch die Einzelteile des Dreiecks noch runterzubrechen, zum Beispiel das Gekochte noch in Kochen und Braten, was Lévi-Strauss begründet mit „Kochen steht der Kultur näher, Braten eher der Natur“. Die Familie bekocht man, Gäste kriegen einen Braten vorgesetzt. Mein Lieblingssatz: „In einem nächsten Schritt gliedert Lévi-Strauss den Kannibalismus in dieses Modell ein; er unterscheidet zwischen „Endo-Kannibalismus“ und „Exo-Kannibalismus“, wobei Verwandte eher gekocht, Feinde eher gebraten werden.“ (S. 22)

Auch mit Herrn Barthes werde ich nicht warm, obwohl seine Mythen des Alltags natürlich bei mir im Regal stehen, direkt neben Die helle Kammer über Fotografie – einer dieser fiesen Grundlagentexte, die man als Kunsthistorikerin kennen sollte. Oder wenigstens mal gelesen haben sollte. Oder als Minimalanforderung im Regal stehen haben sollte. Shahadat fasst den Mythos-Begriff Barthes’ zusammen genau wie seine Semiotik – und ich habe beides wie immer nicht kapiert. Aber das ist ja das Schöne an der Uni: Ich kann mir selber zugestehen, Dinge nicht verstehen zu wollen, fertig. Für ein kunsthistorisches Referat im dritten Semester musste ich mich dem semiotischen Ansatz der Bildanalyse auseindersetzen, und ich habe nie wieder so viel Sekundärtexte gebraucht wie hier, um den Ursprungstext von Felix Thürlemann zu verstehen. Seitdem weiß ich, dass ich persönlich mich Bildwerken nie wieder auf diese Art nähern möchte. (Unsere Lektürekurstexte stehen übrigens in diesem Buch, das ich sehr empfehlen kann. Bis auf den Thürlemann-Text. Knurr.)

Zurück zum Futter: So halbwegs nachvollziehen konnte ich die Ansage, dass Nahrung ihren Esser gegenüber einem Milieu situiert. Sowohl Lévi-Strauss als auch Barthes weisen der Nahrung eine Aufgabe zu, die über die Funktion des Treibstoffs für uns hinausgeht. „Ist Essen für Lévi-Strauss eine Möglichkeit, die Welt und das Dasein zu denken (den Menschen gegen das Tier abzusetzen, die Kultur gegen die Natur), so ist Barthes’ Semiologie dieser metaphysische Anspruch fern, sie ist stärker im Alltag verankert. Ihm geht es um kollektive Phantasien, die eine Kultur mithilfe bestimmter Nahrungsmittel – sei es Zucker, wie in den USA, oder Wein, wie in Frankreich – ausagiert.“ (S. 25) Der Text erklärt mir leider nicht, was genau die USA mit Zucker ausagiert – ich habe es mal als Belohnung, als schlicht angenehm und sinnlich angesehen, weil ich dem Amerikaner an sich unterstelle, dass er sich sein Leben so angenehm machen will wie möglich. (Soziologie ist echt nicht meins.)

Dafür konnte ich mit Norbert Elias und Georg Simmel mehr anfangen. Elias beschreibt, dass Tischsitten Teil des Zivilisationsprozesses sind und sie seit der Renaissance als gemeinschaftsstiftend angesehen werden. Simmel geht hingegen auf die sozialisierende Wirkung des Essens sein: „In der gemeinsamen Mahlzeit wird der Feind zum Freund“ (S. 25), und er beschreibt mit Anweisungen für Farbgestaltung des Esszimmers sowie seiner Möbel die Ästhetisierung des Essens, „die den Menschen über die ‚Hässlichkeit des physischen Essvorgangs‘ erhebt“ (S. 26). Über diese Hässlichkeit hätte ich zwar gerne mit Herrn Simmel kurz diskutiert und ihm meinen Instagram-Stream gezeigt, aber gut, wenn ich an die ganzen doofen Women-laughing-alone-with-salad-Bilder denke, hat er vielleicht doch recht gehabt, wenn auch anders als gedacht.

Mein Liebling im Text war Mary Douglas, für die „jede Mahlzeit ein durchstrukturiertes soziales Ereignis [ist], das andere soziale Ereignisse spiegelt“ (S. 28). So schreibt sie, für mich total logisch, dass man mit Fremden trinken kann, aber nicht essen. Eine weitere Differenzierung ist warmes und kaltes Essen – man müsse sich schon intimer kennen, um mit jemandem eine warme Mahlzeit einzunehmen. (Ich denke gerade über die Dating-Kultur nach – da geht man auch erst was trinken, bevor man sich gemeinsam an ein längeres Mahl traut.)

Wir lasen zusätzlich noch den Ursprungstext von Simmel, den Shahadat nur anreißt, und einen Text von Ulrich Tolksdorf, der ein schönes Modell von „Mahlzeit“ aufstellte (hier auf Seite 13). Er unterteilt „Mahlzeit“ zunächst in „Speise“ und „Situation“, wonach er „Speise“ noch in „Nahrungsmittel“ und „(kulturelle) Technik (der Zubereitung)“ untergliedert. „Situation“ wird noch in „Zeit“ und „Raum“ geteilt, wonach sich bei der Beurteilung einer Mahlzeit die simple Fragefolge „Was, wie, wann, wo“ ergibt, um sie zu untersuchen.

Als Abschluss legte uns der Dozent ein paar Bilder vor, unter anderem da Vincis Abendmahl, ein Foto einer Arbeiterkantine und einen Ausschnitt aus der Brigitte von 1968 („Was tun Sie, wenn Ihr Mann nachmittags um vier anruft: ‚Zum Abendessen bringe ich fünf Gäste mit!‘“ – Das ist einfach: „Kauf auf deinem Heimweg was vom Türken, Pappkopf, ich les hier gerade ein gutes Buch“). Wir sollten zu jedem Bild eine der Theorien anwenden, die wir gerade kennengelernt hatten, was ich sehr spannend fand, weil da wenigstens ein bisschen Bildwissenschaft (aka die moderne Kunstgeschichte) mit drin ist.

Nach dem Seminar ging ich in die Historicumsbibliothek, denn in zwei Stunden folgte meine nächste Vorlesung. Und da ich inzwischen weiß, wenn ich nach dem Seminar nach Hause fahre, gucke ich eh bloß zwei Serienfolgen, blieb ich stattdessen brav in der Uni und arbeitete vor mich hin. Um kurz vor 14 Uhr schlenderte ich dann ins Hauptgebäude, kletterte in den zweiten Stock, ging zum Hörsaal – und genau in dem Moment, in dem ich ihn betreten wollte, fiel mir ein: Die Vorlesung fällt aus. Das hatte uns die Dozentin letzte Woche doch gesagt. Hmpf.

Auf einem Auge blöd stapfte ich zur Bushaltestelle und fuhr nach Hause, wo ich weiter Bücher zur Festkultur las, zwischendurch zwei Brezn mit Salat und Hummus aß, Ablage und Steuerquatsch machte und schließlich Texte für das Kindheitsseminar am Donnerstag las. Darüber vernachlässigte ich sträflich F., mit dem ich eigentlich verabredet war, aber wie wir Texterleins alle wissen: Never leave a hot keyboard. Das lief gestern so gut, und ich fand so viel gutes Zeug, dass ich schlicht nicht vom Schreibtisch weg wollte. So sorry!

Hillsborough disaster: deadly mistakes and lies that lasted decades

Kein einfacher Artikel, aber eine lange und gründliche Auseinandersetzung mit dem Hillborough Disaster, über das gestern ein neues Urteil gefällt wurde: Es war nicht die Schuld von drängelnden und betrunkenen Fußballfans, dass 96 Menschen zu Tode kamen, sondern eine äußerst unglückliche Verkettung von menschlichem Versagen und einem maroden Stadion. Die Angehörigen der 96 haben für dieses Urteil seit 27 Jahren gekämpft. Deswegen war gestern der Hashtag #JFT96 – Justice for the 96 – ziemlich oft in meiner Timeline.

„At these inquests, he admitted he had given “no thought” to where the people would go if he opened the gate. He had not considered the risk of overcrowding. He had not foreseen that people would naturally go down the tunnel to the central pens right in front of them. He had not realised he should do anything to close off that tunnel. The majority of the 2,000 people allowed in through gate C went straight down the tunnel to the central pens, and gross overcrowding there caused the terrible crush. Of the 96 people who died, 30 were still outside the turnstiles at 2.52pm. They went in through gate C when invited by police, and were crushed in the central pens barely 10 minutes later.“

Eva Hesse

Ab Donnerstag läuft eine Doku über Eva Hesse im Kino, auf die ich mich sehr freue. Hier ein Artikel aus der NY Times und hier noch mal der Link zu meinem Ausstellungsbesuch in Hamburg 2014, wo bereits ein kurzer Ausschnitt des Films lief.