Tagebuch Dienstag, 10. November 2015 – Am Schreibtisch

Am Referat weitergewerkelt, leider viel langsamer als geplant. Zwischendurch Tee gekocht, ein, zwei Serienfolgen geguckt, um das Hirn auszuruhen, dann weitergestolpert von einem Aufsatz zum nächsten, von einem Bildband zum anderen.

Nachmittags mit Twitter um Helmut Schmidt getrauert.

Mich sehr über einen Tweet bzw. eine Bildinterpretation vom Getty Museum gewundert. Ein Bild aus ihrer Sammlung von William Hogarth zeigt einen Mann, wie er offensichtlich mit Gewalt versucht, sich eine Frau gefügig zu machen; das Bild heißt Before. Der Mann zerrt am Rock der Frau, diese versucht ihn mit ihrem Arm abzuwehren, der gegen seine Stirn gepresst ist, gleichzeitig greift sie nach einem Tisch, um einen festeren Stand zu bekommen. Auf dem Tisch befinden sich ein Spiegel und zwei Schachteln, die vermutlich Schönheitsprodukte enthalten, am Spiegel hängt ein Band. Das Zimmer scheint also der Frau zu gehören und trotzdem ist sie nicht in ihm sicher. Der Tisch kann ihr keinen Halt bieten, er fällt um, eine Schublade springt auf, die Schachteln rutschen zu Boden, der Spiegel zerspringt, wie man im Folgebild erkennen kann.

Es heißt After und zeigt beide, wie sie ihre Kleidung ordnen. Der Mann scheint schon wieder auf dem Sprung zu sein, die Frau legt ihre Hand auf seine Schulter. Der Text vom Getty dazu: „[T]he disheveled woman implores his discretion. The overturned table and broken mirror symbolize the woman’s shattered life now that she has lost her virginity.“

Gerade wenn man sich den letzten Satz durchliest, frage ich mich, wie man ernsthaft von einer Verführung sprechen kann, wie es das Museum im Begleittext und im vorhin angesprochenen Tweet tut. Mit meiner Irritation war ich nicht alleine, wie die anderen Kommentare zum Tweet zeigen, und eine der Antworten des Museums – „maybe we shouldn’t judge it based on our modern day sensibilities“ – kommt mir immer noch komisch vor. Einen offensichtlichen Ãœbergriff als Verführung zu bezeichnen, ist einfach dämlich, und das hat nichts mit irgendwelchen Empfindlichkeiten zu tun, sondern damit, dass wir heute beim Namen nennen, was damals als Kavaliersdelikt umschrieben und mit boys will be boys und „Frauen wollen das doch so“ entschuldigt wurde wurde. Selbst wenn es zur Zeit der Bildentstehung die Absicht des Malers gewesen sein sollte, die (aus der männlichen Perspektive formulierte) Mär vom gefallenen Mädchen und ihrem stürmischen Eroberer darzustellen, kann man heute durchaus einen kritischen Blick auf den Bildinhalt werfen und ihn als das bezeichnen, was er ist.

(Bin auch jetzt, Stunden später beim Aufschreiben, noch stinkig. It’s the fucking Getty!)

Abends eine Avocado zermatscht, ein bisschen Ciabatta getoastet und gegen 22 Uhr gegessen, nachdem ich das am Schreibtisch völlig vergessen hatte.

IT’S THE FUCKING GETTY!

Immerhin wurde ich an die Bilder von Hogarth erinnert, die mir im Studium schon über den Weg gelaufen sind: Beer Street/Gin Lane und Marriage à la mode.