Offener Brief

(Ja, manchmal merkt auch Frau Gröner, dass es schön ist, wenn Weblogs Kommentarmöglichkeiten haben)

Lieber Mike,

Ich würde so gerne irgendwas Schlaues zu deinem Eintrag „Wozu“ schreiben, aber in meinem Kopf verknoten sich die Emotionen. Der letzte Satz hat mich jedenfalls erst sehr traurig und dann sehr wütend gemacht. Das wollte ich eigentlich schreiben. Dann fand ich das aber zu brutal und wollte was Aufmunterndes schreiben. Dann dachte ich mir aber, nee, damals, als es für mich auch eine große Leistung war, eine Tasse Tee zu kochen, hätte ich auch keine Mails haben wollen, die mir irgendeinen positiven Sülz erzählen, so von wegen „Ich kenne dich nicht, aber mein Leben hast du allein durch dein Weblog schon bereichert“. Und wer weiß, ob aus dem Baby nicht eine ganz widerliche Bratze geworden wäre. Ich muss gerade an die Kurzgeschichte von Roald Dahl denken, wo eine Mutter sich wünscht, ihr Baby möge bittebitte überleben, sie hatte schon mehrere Fehlgeburten. Und dann sagt ihr Arzt: „Alles in Ordnung, Frau Hitler.“ Damit will ich natürlich keine Witze auf Kosten des toten Kindes reißen, aber genau das meine ich mit den verknotenen Emotionen. Da kommen sofort ganz fürchterlich politisch unkorrekte Gedanken, weil mich der Schluss deines Eintrags eben so aufgewühlt hat. Ich weiß nicht, wie ich dir sagen kann, wie deine Quintessenz bei mir angekommen ist außer – verknotet. Und schmerzhaft. Und ich weiß auch, dass ich sowieso nichts Tröstendes sagen kann, sondern dass dieser Trost aus dir selbst kommen muss und hoffentlich wird.

Ich kann durchaus verstehen, dass sich Menschen in Krisensituationen in die Religion flüchten. Wobei ich das nicht als „flüchten“ bezeichnen wollen würde, aber das mag persönlicher Geschmack sein. Ich hatte eher das Gefühl, gefunden worden zu sein. Und ich wollte mich finden lassen. Ich weiß nicht, ob man sich bewusst dafür entscheiden kann zu glauben, aber ich glaube, dass es manchmal hilfreich sein kann, in eine Kirche zu gehen. Oder einen anderen Raum, der Stille zulässt und in den die Welt „da draußen“ nicht hineinreicht. Einen Raum, in dem wir bei uns sein können. Und, wenn wir wollen, ist eben noch jemand da, dem wir uns anvertrauen können.

Ich habe irgendwo mal den Spruch gelesen: „Gott legt uns nie mehr auf die Schultern als wir tragen können.“ Ich weiß, dass sich das für weniger religiöse Menschen wie das übliche christliche Geseier anhört, aber ich mag den Satz. Immer wenn ich das Gefühl hatte, zu ertrinken, zu ersticken an all dem, was sich das Leben gerade für mich ausgedacht hatte, dann habe ich mich an ihn erinnert. Und auf einmal war das Vertrauen in mich und in meine Stärke wieder da. Bzw. auf einmal habe ich diese Stärke wieder gespürt und sie auch nutzen können.

Ich wünsche dir, dass auch du deine innere Stärke wiederfindest, denn ich glaube daran, dass jeder sie in sich trägt. Ich ahne, dass du den Umweg über die Religion nicht nehmen wirst, aber vielleicht findest du sie in anderen Dingen – wie Tori-Amos-Lieder. Ich bin früher auf Bäume geklettert, weil sie mir so lebendig und schützend und tröstend erschienen. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich jeden Tag am Meer spazierengegangen. Und irgendwann habe ich angefangen, ein Tagebuch zu schreiben. Das wäre doch eine Idee … oh, warte mal …