November-Journal, 1.11.2012

Mittwochs ist mein langer Uni-Tag mit vier Veranstaltungen – und aus der ersten musste ich auch noch früher raus, um einer Einladung einer Hausverwaltung zu folgen. Ich hatte mir vor einigen Tagen eine Wohnung in Schwabing angeschaut, die eine von diesen klassischen Reinkommen-und-einziehen-wollen-Wohnungen war. Genau in diese bin ich bis jetzt immer eingezogen (einmal Bremen, einmal Hannover und dreimal Hamburg), und deswegen flehte ich die Immogötter an, mir auch diesmal gnädig zu sein.

Aber erstmal lauschte ich wie immer mit seligem Lächeln meinem Professor in Musikwissenschaft, der mir die Musikgeschichte von 1700 bis 1830 näherbringen will. Gestern ging es um die Nachahmungsästhetik, die man circa 1700 bis 1815 einordnet. Die Vokalmusik stand deutlich über der Instrumentalmusik, und die Aufgabe beider war es, die Natur nachzuahmen. Entweder a) die menschlichen Affekte (Liebe, Hass, Rache …) oder b) die Laute der beseelten und unbeseelten Natur (Tonmalerei) oder c) die Sprachmelodie oder den Sprachgestus.

Vokalmusik stand dabei weit über der Instrumentalmusik, die als schwerer verständlich galt. Rousseau verstieg sich zur Aussage, jegliche Instrumentalmusik solle doch bitteschön eine Überschrift haben „wie undeutliche Gemälde“, damit man wisse, was sie einem sagen wolle. Ein Satz von Fontenelle: „Sonate, que me veux-tu? – Sonate, was soll ich mit dir?“ Die Vokalmusik wurde auch deshalb geschätzt, weil sie auch Unsichtbares darstellen kann – im Gegensatz zu Bildern, die genau das nicht hinkriegen. Und so ein schönes Singspiel sagt einem ja netterweise per Text, worum es geht. Das war dann auch die Funktion: Der Text vermittelt den Inhalt, die Musik sorgt für die passende Regung im Zuhörer. Johann Adam Hiller formulierte es so: Worte liefern die Zeichnung, Musik die Farbe.

Für den französischen Rationalismus in Form des Autors Charles Batteux war Musik eine „Spiegelung der Realität“. Er unterteilte die Künste in „mechanische Künste“ (damit kann man seinen Lebensunterhalt verdienen), „schöne Künste“ (zweckfrei, setzen Muße und Überfluss voraus – vulgo: Malerei, Musik, Poesie) und „gemischte Künste“ (wie der Name schon sagt). Das Wichtigste an der rationalen Herangehensweise an Musik: Der Künstler soll nicht seine eigenen Gefühle vermitteln, sondern den Anschein dieser Gefühle erwecken. Dozent: „Viele denken, der Mozart wär so traurig gewesen, als er seine Moll-Sonaten schrieb, dabei hat er bloß verdammt gute Moll-Sonaten geschrieben. Und fünf Minuten später die Jupiter-Sinfonie. Der war nicht traurig, der war ein guter Komponist.“

Ich hätte noch stundenlang zuhören können, aber ich musste ja einen guten Eindruck auf Hausverwaltungen machen, weswegen ich in die U-Bahn vor der Uni stieg, am Sendlinger Tor in die Tram kletterte, die Reichenbachbrücke überquerte und drei Stationen weiter einen guten Eindruck auf eine Hausverwaltung machte. Glaube ich jedenfalls, denn nach nicht einmal zehn Minuten entspannter Konversation frug man mich, ob ich den Mietvertrag unterschreiben wolle, was ich quietschend bejahte. Den Immogöttern sei gedankt, und wenn ich wüsste, wo ihr Tempel steht, würde ich ihnen ein Schwein opfern.

Ab heute residiere ich in Schwabing – das behauptete jedenfalls die Anzeige, aber laut Münchener Timeline ist es eher Maxvorstadt. Mir egal, es sind zu Fuß fünf Minuten zum Kunsthistorischen Seminar, und das ist alles, was zählt.

Zurück an der Uni ging es in die Kunstgeschichte von 500 bis 1500. Die letzten Mal beschäftigten wir uns mit karolingischer und ottonischer Architektur, jetzt kam die Romanik dran und damit der Dom von Speyer. Den teilt man in Speyer I und Speyer II ein; Speyer II wurde von 1082 bis 1108 erbaut, und man geht davon aus, dass Heinrich IV mit diesem Protzbau dem Papst einen reinwürgen wollte, der ihn gerade in Canossa empfangen hatte. Danach widmeten wir uns der Hirsauer Bauschule, die Anleihen an der Antike nahm, zum Beispiel bei den Säulenkapitellen, denen sie lustigerweise kleine Ecknasen gaben, die „Hirsauer Nasen“ heißen. Oder wie der Dozent meinte: „Wenn Sie eine von diesen Nasen sehen, riecht das sehr nach Hirsau.“ Gnihihi. (Auf dem Bild da, die kleine Einkerbung über dem Doppelschild, das ist die Nase.)

Die letzten drei Stunden mittwochs gehören der Übung zur Vorlesung, wo wir noch mal Säulenordungen auswendig lernen und Kirchen an ihren Grundrissen erkennen und nebenbei erfahren, wie man zu schöner Literatur kommt, um am Semesterende eine Hausarbeit schreiben zu können. Ich sitze die ganze Zeit da und denke, wir hatten damals ja nix, wenn ich mir anschaue, auf wievielen Seiten man inzwischen vom Sofa aus Bücher suchen kann. Good times.

Überhaupt sitze ich die ganze Zeit da und vergleiche. Der Hauptunterschied haut mich jedesmal um: Ich MUSS nicht hier sein. Ich muss hier keinen Grundstein für eine Karriere legen, ich muss nicht in allen Klausuren Einsen schreiben (auch wenn das natürlich der Plan ist), ich muss hier auch nicht den Mann fürs Leben kennenlernen oder Freundschaften knüpfen oder Netzwerke gründen. Ich sitze hier, weil ich es kann und weil ich es will. Und deswegen grinse ich die ganze Zeit so debil-glücklich vor mich hin, weil ich weiß, weil ich in jeder Sekunde weiß, was für ein Luxus das da gerade ist. Die Chance, sich mit etwas so Wunderschönem wie Kunst oder Musik zu beschäftigen, ohne dass ein Zweck dahintersteckt außer: Es macht mich glücklich.

Und abends hat dann auch noch Bayern gewonnen, und ich hätte sogar eine Karte fürs Stadion gehabt, aber ich wollte nicht alleine unter 70.000 Leuten sitzen, sondern ich wollte mit einem Freund die Wohnung feiern und weiterhin debil-glücklich grinsen. Hab ich dann auch gemacht.