„Im Gesicht, und noch einfacher – im Profil sollte sich das innerste Wesen des Menschen kundtun, und Lavater war der Prophet dieser Lehre. Er traute sich zu, mit einem Blick einen Menschen zu erfassen, zu deuten, ja wahrzusagen, was aus ihm werden könne oder was er gewesen.

Es gibt die Anekdote von einer Begegnung des Physiognomisten mit einem bescheidenen Manne im Reisewagen von Zürich nach Schaffhausen. Lavater liebte es, seine Kunst vor jedem Publikum zu demonstrieren. Er begann sogleich den Mann zu kennzeichen: Sanftmut vor allem, Eingehen auf andere Menschen, die er liebevoll zu betreuen liebt, an die Hand nimmt, sie zu geleiten … ‘Ich bin der Scharfrichter von Schaffhausen, zu dienen, Herr’, sagte das Gegenüber.

Lavaters Werk Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe begann 1775 zu erscheinen (…), der Name Lavater wurde zum Begriff für eine Physiognomik bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Man spottete, imitierte, parodierte; Lichtenberg schrieb sein Fragment von Schwänzen und deutete aus den Ringeln eines Schweineschwänzchens die Seele eines hoffnungsvollen Schweinejünglings. (…)

Eine Silhouette, in Ermangelung des teuren Miniaturbildes, war das erste Geschenk, das der Liebende von der Geliebten, der Freund vom Freunde erhielt; in großen Alben sind uns die Profile fast aller Zeitgenossen Goethes bis zu den Kindern und Dienstboten überliefert. Der nach der Natur gezeichnete Umriss gab immerhin einen gewissen Anhalt. Bald zogen Silhouettenschneider umher, die nach dem Augenmaß arbeiteten und ‘charakteristische Züge’ hinzutaten; ein besonders geschickter Jahrmarktskünstler ließ seinen Hund das allbekannte Profil des Herrn von Voltaire aus einer Brotscheibe herausfressen und fand damit großen Beifall.“

Richard Friedenthal, Goethe: Sein Leben und seine Zeit