Ein kleiner Exkurs in die Kunst

Ich lese gerade – an den Wochenenden – einen Riesenbildband über Raffael. Er ist nicht besonders leicht verdaulich, aber wenn man sich durch die für meine Begriffe unnötig komplizierte Sprache gekämpft hat, bekommt man zur Belohnung Absätze wie den folgenden. Er bezieht sich auf das Bild Die Vermählung Mariä von 1504, und vielleicht machen Sie zeitgleich mal diesen Link auf, um sich das Bild anzuschauen. (Darüber habe ich auf G+ auch schon kurz was zitiert.)

„Die urbinatischen Wurzeln von Raffaels Malkultur manifestieren sich im Bild der Vermählung vor allem in der Auffassung von Schönheit als Ordnungsprinzip der harmonischen geometrischen Bezüge, die schon in den Abmessunge der Tafel selbst wie auch im Verhältnis der Teile der Darstellung zueinander zum Ausdruck kommt. Höhe und Breite der bemalten Fläche verhalten sich – mit ganz leichter Abweichung – wie zwei zu drei. Dabei wird es sich kaum um eine Zufallserscheinung handeln, die nicht in der Absicht des Künstlers lag, zumal dasselbe Verhältnis zwischen den beiden Bildteilen besteht, wenn man als Trennungslinie zwischen ihnen den Horizont betrachtet. Der Horizont liegt also bei drei Fünfteln der Gesamthöhe. Das Verhältnis zwei zu drei entspricht in der Musik der „Quinte“ (griechisch „Diapente“): einer von den Theoretikern und Architekten der Renaissance am häufigsten untersuchten harmonischen Proportion, angefangen von Alberti, der im Buch IX seiner De re aedificatoria schreibt: ‘Diese Zahlen, die die Kraft haben, den Tönen den Zusammenklang zu geben, der dem Ohr so angenehm ist, sind dieselben, die den Augen und unserer Seele die gleiche bewunderswerte Freude breiten können. Vor allem in der Musik, die viele Zahlen zum Gegenstand vertiefter Forschung gemacht, und ferner bei den Objekten, von denen die Natur ihrerseits ansehnliche Proben gegeben hat, können wir alle jene Gesetze der Abgrenzung gewinnen.’ Weitere Verhältnisse – der „Oktave“, der „Quinte“ oder noch komplexere – kann man aus den anderen Teilen des Bildes herauslesen, besonders bei dem Tempel, dessen Radius ein Achtel der Breite der Tafel beträgt, während der Durchmesser der Kuppel zu dem des Säulenumgang im gleichen Verhältnis steht wie der Säulenumgang zum halbkreisförmigen Bildrahmen. Die Tafel selbst bildet ein Quadrat, dem ein Halbkreis aufgesetzt ist. Wenn man diesen Bildabschluß nach unten zum vollen Kreis ergänzt, trifft man genau auf die Hände des Brautpaars. (…)

Die Vermählung Mariä steht an einem entscheidenden Wendepunkt in der Karriere des jungen Künstlers, der seinen gut sichtbar auf dem Fries des Tempels angebrachten Namenszug mit dem Zusatz „VRBINAS“ versah. Hier sind alle seine nun zur Reife gelangten urbinatischen und umbrischen Erfahrungen in einer außergewöhnlichen Synthese vereint – wenige Monate, bevor Raffael sich in die „maniera moderna“ eines Leonardo und Michelangelo vertiefte, die seine Formensprache erneut und noch radikaler verändern sollte.“

Pierluigi DeVecchi (Dr. Annemarie Seling, Ãœbers.), Raffael, Hirmer Verlag, 2002, S. 70/71