Was schön war, Sonntag, 30. Oktober 2016 – „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“

Der Twitter-Account des Residenztheaters spülte mir gefühlt tausendmal das großartige Bühnenbild von Die bitteren Tränen der Petra von Kant in meine Timeline, und obwohl Fassbinder großes Potenzial hat, mir total auf die Nerven zu gehen, wollte ich das Stück sehr gerne sehen – wegen des Bühnenbilds.

Hat sich auch gelohnt, nicht nur wegen des Bühnenbilds (aber das war wirklich toll). Wir saßen im Marstall (hello, Leo von Klenze!) nicht auf den üblichen nach oben ansteigenden Bänken, sondern diese waren um einen Guckkasten herum aufgestellt, der zunächst nicht einsehbar war; die Wände waren verspiegelt, man sah sich selbst und auch die Zuschauer*innen rund um den Kasten, aber nicht sein Inneres. Man war so eher Voyeurin als Zuschauerin und das wurde im Laufe des Stücks immer unangenehmer, je mehr Petra von Kant mit sich und ihrem Schmerz kämpfte.

Ich mochte an dem Bühnenbild seine strenge Ordnung, die von den sechs Darstellerinnen teilweise aus Frust, teilweise aus Ignoranz langsam in Unordnung gebracht wurde, mehr und mehr Flaschen wurden umgestoßen, zerbrochen, zerschmissen, und während gerade von Kant anfangs militärisch präzise zwischen den Flaschenreihen schritt, ohne sie auch nur zu berühren, war zum Schluss alles egal, je mehr kaputtging, desto besser. Mein üblicher Residenztheatercrush Andrea Wenzl hat mit Bibiana Beglau eine sehr beeindruckende Konkurrentin bekommen. Muss ich mir wohl doch noch den Faust angucken, in dem die beiden Damen das Gretchen sowie Mephisto spielen.

Das Stück war sehr intensiv, es geht um Liebe, die mit Macht verwechselt wird, die Grausamkeit des Verlassenwerdens genau wie die Grausamkeit der unerwiderten Zuneigung, und obwohl die Szenen deutlich voneinander getrennt wurden – das Saallicht ging an, man sah sich wieder selbst im Spiegel, bevor wieder der Kasten von innen leuchtete und man die Darstellerinnen sehen konnte –, blieb die Spannung immer da, man konnte sich nie erholen und litt zwei Stunden mit von Kant mit. (Ich glaube, die lautmalerische Gleichheit zum englischen cunt ist gewollt – und billig.) Eine einzige Szene hat mich allerdings völlig rausgerissen und sehr wütend gemacht. Von Kant hat die junge Karin Thimm bei sich aufgenommen, sie als Model groß gemacht und sich in sie verliebt, während Thimm schnell von ihr gelangweilt ist und von Kant nun bewusst quält. In einer Szene beschreibt sie, wie sie letzte Nacht mit einem Mann geschlafen hatte. Sie benutzt das N-Wort, beschreibt den großen Schwanz ihres Liebhabers und seine schwarzen Hände auf ihrer weißen Haut. Und das hat mich sehr geärgert.

Die „schwarzen Hände auf weißer Haut“ ließen mich sofort an die ganzen unsäglichen Titelbilder nach der Kölner Silvesternacht denken, und alleine das Heraufbeschwören des legendär gut augestatteten schwarzen Mannes ist ein fürchterlich rassistisches Klischee, genau wie es die Angst der Weißen ist, „ihre“ Frauen an Schwarze zu verlieren. Mir ist schon klar, dass es besonders demütigend für von Kant sein soll, das anzuhören, und mir ist auch klar, dass in den 1970er derartige Sensibilitäten vielleicht noch nicht so ganz ausgeprägt waren, aber heute sind sie es, und ich hätte hier eine winzige Kürzung erwartet. Alleine die Tatsache, dass Thimm mit einem Mann anstatt mit einer Frau schläft, sollte Demütigung genug sein, und auch weiße Herren sind ab und zu mal außerordentlich gut bestückt, das hätte also auch funktioniert. Und das N-Wort muss ich echt nicht mehr hören.

Andererseits sind solche Sensibilitäten eben gerade noch nicht überall vorhanden, wenn man sich die unsägliche Scheiße von Verstehen Sie Spaß anschaut, über die in den letzten Tagen schon genug geschrieben wurde. Es reicht anscheinend nicht, wenn die Interessenvertretung Schwarzer Menschen in Deutschland darauf hinweist, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender gerade so richtig Mist baut – solange weiße Menschen entscheiden, was rassistisch ist und was nicht, ist das egal. Auch die Rede von Herrn Oettinger war mir natürlich im Hinterkopf, der allen Ernstes meinte, dass „Schlitzaugen“ nicht rassistisch sei; was denn dann? Nee, sag’s nicht, ich will es gar nicht hören. Und dann das Gejammer der Arschlöcher, denen auf einmal alles zu politisch korrekt ist, was für mich schlicht bedeutet, dass sie in Ruhe weiter rassistisch sein wollen dürfen. Meiner Meinung nach dürfen sie das nicht, und je mehr Menschen sie darauf hinweisen, desto eher sind wir die Scheiße los. Vielleicht streicht dann auch mal jemand äußerst veraltete Ausdrucksweisen von Fassbinder.

Was schön war, Samstag, 29. Oktober 2016 – Auswärts … nee, Moment, Heim … äh … na, irgendein Spiel halt

Ich bin seit einigen Jahren Vereinsmitglied beim FC Bayern München. Seit dieser Saison gucke ich mir zusätzlich die Spiele vom FC Augsburg an, ist ja quasi um die Ecke, und habe gemerkt, wieviel Spaß ich dort im Stadion habe, obwohl die Jungs deutlich schlechter spielen und seltener gewinnen. Gestern trafen die beiden Mannschaften in Augsburg aufeinander – und ich wusste wirklich nicht, welchen Schal ich tragen sollte.

Ich bekam sogar eine Antwort:

Das war zwar nett, aber ich ging dann doch neutral, in Jeans und schwarzer Jacke, keine Teamfarben und dazu auch noch ein blaues Shirt, das auf der Rückfahrt auch scherzhaft bepöbelt wurde: „Ah, die Farbe, die BEIDE Mannschaften scheiße finden.“

F. und ich hatten zwei charmante Mitfahrer*innen, wir saßen zu viert im Zug, knabberten Kekse und warteten in Augsburg frohgemut auf die Tram, die uns zum Stadion bringen sollte, als einer der beiden Begleiter meinte: „Äh. Ich habe nur eine Karte dabei statt zwei.“ Wir dachten natürlich, ja klar, super Scherz, aber: Der Gute hatte wirklich eine von beiden zuhause liegen gelassen. Da F. als Vereinsmitglied die Karten bestellt hatte und tollerweise noch die Versandbestätigungsmail auf seinem Handy hatte, gingen die drei mit wenig Hoffnung, aber die stirbt ja zuletzt, zur Stadionkasse, während ich mich schon auf den Weg zu meinem Platz machte. Ich konnte mal wieder neben F. sitzen, denn sein Dauerkartensitznachbar hatte keine Zeit und ich deswegen seine Karte.

Hätte ich nicht gedacht, aber: Die Stadionkasse hat geliefert. F. konnte nachweisen, dass das seine Karten sind, von denen eine ja auch da und die andere logischerweise noch nicht im Stadion eingecheckt war, woraufhin der eine Mitfahrer fünf Euro für eine Ersatzkarte zahlen musste, die ihm an Ort und Stelle ausgedruckt wurde. Toll. Die beiden saßen sogar noch rechtzeitig zum Anpfiff auf ihren Plätzen.

Vielleicht noch kurz zum Einchecken; neulich kam ja sogar die Frage nach dem Fraueneingang auf, daher gibt es hier eventuell Erklärungsbedarf. Jede Karte, ganz gleich ob Dauer- oder Tageskarte, hat einen Strichcode, der beim Eintritt ins Stadion gescannt wird. So wird zum Beispiel beim FCB überprüft, ob die günstigen Kurvendauerkarten regelmäßig benutzt werden. Die Karten kosten bei uns für eine Saison gerade 150 Euro und sind für eher junge Fans gedacht, die sich die nächsthöhere Kategorie, die schon über 500 kostet, nicht leisten können. Es kam durchaus vor, dass einige Leute sich diese günstigen Karten schossen, entspannt fünf Spitzenspiele guckten und den Rest einfach verfallen ließen; das wären 30 Euro pro Spiel und damit okay. Durch den Strichcode kann überprüft werden, wie oft die Karte im Stadion ist. Wer damit durch die Drehkreuze geht, ist völlig egal, man kann die Karte auch an Freunde weitergeben – sie soll halt nur im Stadion sein, damit der Platz nicht leerbleibt. Gestern wurde ich in Augsburg nach dem Drehkreuz noch nach dem Mitgliedsausweis gefragt; meine geliehene Dauerkarte ist ermäßigt, denn sie gehört einen Vereinsmitglied. Deswegen muss man immer den Vereinsausweis dabeihaben, um die Ermäßigung nachweisen zu können. Der prüfenden Dame war es völlig egal, dass da ein Männername auf meiner Karte stand, und auch in der Allianz-Arena stört sich am Blockaufgang niemand daran, dass auf dieser Karte auch ein Männername steht, Hauptsache, ich bin im richtigen Block. Einschub Ende und zurück zum gestrigen Spiel:

Ich wusste kurz vor Anpfiff immer noch nicht, wem ich die Daumen drücken sollte, aber dann kam die Augsburghymne und damit war das Thema durch. So sehr ich mich im Nachhinein freue, dass Bayern gewonnen hat (3:1) und damit weiter Tabellenführer ist, so sehr litt ich im Stadion 90 Minuten vor mich hin und verfluchte den offensichtlichen Klassenunterschied zwischen den beiden Teams. Jetzt weiß ich endlich, wie sich die meisten Gästefans in der Allianz-Arena fühlen.

Da es vor dem Spiel so hektisch war, gönnten F. und ich uns die traditionelle Stadionwurst erst nach dem Spiel. Danach war die Laune auch gleich besser.

Was schön war, Freitag, 28. Oktober 2016 – Lesestöffchenchen

Morgens endlich die Leo-von-Welden-Arbeit in Netz gestellt, auf die ich zugegebenermaßen recht stolz bin. Dann drei Exemplare per Mail an die drei Archive verschickt, deren Bestände ich in der Arbeit verwendet habe. Jedenfalls habe ich die Benutzerordnungen so verstanden; das Bundesarchiv in Berlin sagt zum Beispiel: „Ich verpflichte mich, von jeder Veröffentlichung (Druck oder sonstige Vervielfältigung), für die Archivalien des Bundesarchivs benutzt worden sind, ein Belegstück sogleich nach Erscheinen unaufgefordert und kostenlos an das Bundesarchiv abzugeben.“ Den Benutzungsantrag habe ich digital bekommen, daher habe ich ihn noch. Den im Bayerischen Hauptstaatsarchiv habe ich vor Ort ausgefüllt, weswegen ich mich nicht an die genaue Formulierung erinnere, aber ich dachte, wird ähnlich sein, schickste einfach was hin.

Ich bekam sogar eine Antwort, bei der ich mir immer noch nicht sicher bin, ob ich gerade mild gedisst wurde.

Den Vormittag verbrachte ich in Büchern und Aufsätzen über Amnesty International und stellte erfreut fest, dass endlich, im neunten Semester, die Hirnzellen von alleine anfangen zu klicken, wenn ich Texte lese. Bei so ziemlich jedem Absatz ploppten im Hinterkopf Fragen oder Widerspruch auf, aus denen ich schon drei Referate basteln könnte. Läuft.

Um 14 Uhr saß ich dann wieder in der Uni für meinen Lektürekurs in Geschichte. Der findet lustigerweise nur zweimal statt – in der ersten Sitzung bekommen wir eine Bücherliste, die wir selbständig durcharbeiten, und am Ende des Semesters treffen wir uns zum Abschlussgespräch wieder, was dann unsere Prüfungsleistung ist.

Ich hatte die Wahl zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, und da ich mich in Kunstgeschichte auf der Zielgerade anscheinend für die erste Hälfte des 20. entschieden habe, wählte ich den dementsprechenden Kurs auch im Nebenfach. Ich erwartete mindestens zehn Bücher: eins über WWI, eins über die Weimarer Republik, eins über die NS-Zeit, eins über die Teilung Deutschlands usw. Stattdessen bekamen wir fünf Überblickswerke genannt, von denen wir gerade mal zwei lesen müssen.

Da ihr sicher auch schon lange auf der Suche nach guten Überblickswerken seid, gebe ich die Tipps mal uneigennützig weiter.

Für den Anfang ein großer Historiker: Eric Hobsbawms Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ist aber schon von 1998, daher hatte ich nicht so richtig Lust auf das Ding. Weiter.

Philipp Bloms Die zerrissenen Jahre: 1919 -1938 wurde uns als eher kulturgeschichtlich vorgestellt, was mich sofort aufhorchen ließ. Die Leseprobe überzeugte mich leider gar nicht, daher: auch nein.

In James J. Sheehans Kontinent der Gewalt: Europas langer Weg zum Frieden sei besonders die Nachkriegszeit gut beschrieben, und da ich genau darüber gerne was lesen wollte, wird mein erstes Buch dieses hier sein. (Leseprobe der englischen Ausgabe.)

Vermutlich auch deshalb auf der Liste, weil es beim Bezug über die Bundeszentrale für politische Bildung bezahlbarer als bei Amazon ist: Akira Iriyes Geschichte der Welt 1945 bis heute: Die globalisierte Welt. Sprach mich nicht an.

Stattdessen noch ein großer Name und das Buch, das ich als zweites lesen werde: Ian Kershaws Höllensturz: Europa 1914 bis 1949. Von dem Herrn wollte ich ja schon längst mal die Hitler-Biografie gelesen habe, aber ach. (Spätestens zur Masterarbeit.)

Ich habe mir beide Werke auf englisch anstatt auf deutsch bestellt, weil vor allem der Kershaw so deutlich günstiger war als die Übersetzung. Was wir beim Lesen im Hinterkopf behalten sollten: Wie wird Geschichte periodisiert, wie wird sie aufbereitet? Vertritt der Verfasser bestimmte Thesen, hat er eine Agenda? Und nicht zuletzt: Für wen werden solche Überblickswerke geschrieben außer für Lektürekursstudis? Gute Frage.

Einem lieben Menschen grobe Bratwurst und Semmelknödel mit Champignonsauce aus dunklem Bier vorgesetzt. Einem Marienkäfer einen Winterschlafplatz in der eigenen Küche angeboten. (Okay, ich wurde von ihm überrumpelt.)

Hausarbeit „Leo von Welden zur Zeit des Nationalsozialismus“

Ihr habt die Entstehung dieser Hausarbeit quasi Schritt für Schritt mitbekommen, und jetzt kriegt ihr sie endlich zu lesen. Falls ihr daran überhaupt noch Interesse habt und nicht sofort augenrollend ein anderes Blog anklickt.

Hey, nein, nicht augenrollend ein anderes Blog anklicken, das ist eine tolle Arbeit geworden! Meinen jedenfalls der Dozent (Note 1,0) und die Tochter des Künstlers, die sich nach dem Lesen bedankte, dass ich aus ihrem Vater keinen strammen Nationalsozialisten gemacht habe. Dazu gab’s keinen Grund, aber natürlich war das eine ihrer Befürchtungen. Umso mehr wusste ich es zu schätzen, dass ich ohne Einschränkung in Aktenordner reingucken, Korrespondenzen lesen und Grafikmappen durchblättern durfte.

Ein weiteres Dankeschön geht ans Lenbachhaus, das mir nicht nur anständige digitale Abbildungen von Werken, die sich in seinem Depot befinden, zur Verfügung gestellt hat, sondern auch nichts dagegen hat, dass ich sie im Rahmen dieser Arbeit ins Internet stelle. In diesem Zusammenhang: Die Abbildungen (Scans, Fotos) aus dem Nachlass von Weldens, die sich im Anhang der Arbeit finden, habe ich hingegen entfernt.

In der Arbeit finden sich einige offene Fragen, die ich bis zum Abgabezeitpunkt nicht klären konnte und die ich teilweise bis heute noch nicht weiterverfolgt habe BECAUSE SEMESTERFERIEN. In der Fußnote 38 auf S. 8 weiß ich zum Beispiel nicht, ob eine Ausstellung in Freiburg stattgefunden hat. Das hätte man vielleicht im Stadtarchiv Freiburg klären können oder beim Kunstverein, aber auf diese Idee bin ich eine gute Woche vor Abgabe der Arbeit nicht mehr gekommen. Wir erinnern uns: Die ganzen tollen Unterlagen, anhand derer ich vieles klären konnte, die aber teilweise neue Fragen aufwarfen und die dafür sorgten, dass ich die Hälfte der Arbeit nochmal umschrieb, bekam ich erst am 6. September – Abgabetermin war der 15.

Vom vierseitigen Bericht an das Kriegsschädenamt finden sich im Nachlass nur noch die letzten drei Seiten (S. 13 in der Arbeit); ich hoffte auf Akteneinsicht im Stadtarchiv, das den Nachlass dieses Amtes verwaltet; das schloss aber genau zu dieser Zeit den Lesesaal für Renovierungsarbeiten für vier Wochen, weswegen man sich keine Akten ausheben lassen konnte. Auch das steht natürlich noch auf meinem Plan, inzwischen aus purer Neugier und der Vorfreude darauf, in Originalunterlagen wühlen zu dürfen.

In der Fußnote 109 erwähne ich, dass ich noch auf Auskunft zu der aufgetauchten Mitgliedsnummer der Reichskammer der bildenden Künste warte; die traf wenige Tage nach Abgabe ein und war leider negativ. Auch unter der alternativen Schreibweise „von Velden“, die ich in einigen Zeitungsartikeln fand, war von Welden außerhalb der beiden Fundstellen, die ich in der Arbeit beschreibe, nicht in den Beständen des Bundesarchivs zu finden.

Ich kümmere mich jetzt um von Welden nach 1945. In sechs Monaten steht dann hier quasi Teil 2 zum Herrn. Bleibt dran. (Mach ich ja auch.)

Tagebuch, Mittwoch, 26. Oktober 2016 – Favorites

Es ist keine Erkältung geworden (yay!), aber so richtig fit fühlte ich mich auch nicht. Netterweise wartete niemand in irgendwelchen Unigebäuden auf mich und so konnte ich Tee trinken, dösen, beim Lesen einschlafen und beim Fußball einschlafen.

Zwischendurch war ich wach genug, um Linsensuppe zu kochen und endlich mal die „Favorite Entries“-Liste von 2015 abzuschließen (die stand bei August 2015) und die „Favorite Entries 2016“-Liste anzulegen. Das liest vermutlich niemand außer mir, aber ich mag das, durch meine eigenen Einträge nochmal durchzugehen und nach fünf Jahren zu gucken, was ich damals wichtig fand. Im Moment macht es allerdings weniger Spaß, das eigene Blog zu durchforsten, weil in vielen Einträgen schmerzhafte Dinge beschrieben werden. Auch deshalb habe ich mit der „Was schön war“-Kategorie angefangen; sonst wäre ich viel zu oft traurig gewesen. Schreiben als Therapie funktioniert. Jedenfalls bei mir und oft genug.

Tagebuch, Dienstag, 25. Oktober 2016 – Ms. Crankypants

Der gestrige Tag war nur in Momenten schön. Er begann um 2 Uhr morgens, als ich aus dem Schlaf hochschreckte und nicht wieder einschlafen konnte. Je länger ich wach lag, desto genervter wurde ich, das wechselte sich irgendwann ab mit Traurigkeit und dann Wut und ich begann, über Dinge nachzudenken, über die man morgens um 4 nicht nachdenken sollte; wieso liege ich hier in einer blöden 1-Zimmer-Wohnung anstatt in meiner 4-Zimmer-Villa in Hamburg, wieso verdiene ich kein Geld mehr, was ist aus dem Kerl geworden, was ist aus uns geworden, was ist aus mir geworden, wer bin ich überhaupt, jetzt wo ich nicht mehr Werberin in Hamburg bin, was mache ich hier eigentlich, was soll der Scheiß. Alles tolle Themen, die ich natürlich noch keine zehntausendmal durchdacht habe, mit Vorliebe abends oder nachts, aber anscheinend war gestern einer der Tage, an denen mal wieder was hochwollte, warum auch immer. Das kam sehr aus heiterem Himmel, was mich zusätzlich traurig und wütend gemacht hat, weil ich ja immer denke, wenn es mir gut geht, dann bleibt das so. Haha.

Gegen vier machte ich das Licht an und las, was endlich dazu führte, dass ich wieder müde wurde und wieder einschlief, aber als der Handywecker klingelte, war ich eher gerädert als ausgeruht. Aber: Die Uni wartete, ich quälte mich in die Klamotten und den Bus, denn es regnete, weswegen ich keine Lust aufs Fahrrad hatte, was aber klüger gewesen wäre, weil ich dann meine Wut hätte rausstrampeln können. So stand ich im vollen Bus mit vielen Menschen, ärgerte mich im Saal über die üblichen Seniorenstudis, die erstmal die Randplätze belegen und konnte selbst im Unterricht mein Genervtheitslevel nicht abbauen. Mir ging alles auf den Zeiger, die teilweise unbeschrifteten Bilder, meine eigene Handschrift, meine Müdigkeit, und irgendwann war ich so genervt von meiner eigenen Genervtheit, dass ich mal wieder froh darüber war, dass wir so strenge Waffengesetze haben und ich keinen Baseballschläger besitze, sonst würde ich zu Falling-Down-Douglas mutieren.

Zu meiner genervten Müdigkeit kam das Gefühl, eine Erkältung in mir aufziehen zu spüren. Vor einigen Tagen dachte ich noch, hey, seit letztem September nicht erkältet gewesen, yay. Sowas sollte man ja nie denken, denn dann kichert das Universum und denkt sich, sowas solltest du nie denken, denn dann kichere ich und schicke dir Halsschmerzen und Matschigkeit.

Immerhin fiel das Menschenrechtsseminar aus, so dass ich schon mittags nach der Vorlesung wusste, dass niemand mehr was von mir wollte für den Rest des Tages. Außer der ehemalige Mitbewohner, denn eigentlich hatten wir uns auf ein Bierchen verabredet, worauf ich mich sehr gefreut hatte. Jetzt war ich also stinkig wegen Müdigkeit, Halsschmerzen und keinem Bierchen mit einem netten Menschen – und konnte das nicht mal wegschlafen. So müde war ich dann anscheinend doch nicht; ich bin nicht mal während des blöden DFB-Pokals eingenickt, wo ich bei Fußball sonst hervorragend einnicken kann. Aber da war mein Körper auf einmal bockig. Weiß auch nicht, woher er das hat.

Was mich endlich aus der Negativschleife holen konnte, waren erstens ENDLICH MAL ANSTÄNDIG VIELE BANANEN IM TROPIFRUTTI (in der letzten Tüte waren drei. DREI!) und zweitens: Teekochen.

Ich trinke überhaupt keinen Eistee, Tee ist für mich ein Herbst- und Wintergetränk, und sobald ich ihn aufsetze, beginnt die Vorfreude und mir ist sehr bewusst, dass der blöde Sommer mit seiner blöden Hitze endlich rum ist und die Temperaturen wieder angenehmer werden. Ich befülle den Wasserkocher mit warmem Wasser, damit der Wasserhahn heißes spendet, wenn der Kocher voll ist, denn damit fülle ich die Teekanne, um sie vorzuwärmen. Das hat immer so etwas Fürsorgliches. Meine Kaffeekannen wärme ich nicht vor, überhaupt wärme ich gar nichts vor, fällt mir gerade auf, aber die Teekanne kriegt diese kleine Sonderbehandlung und das finde ich jedesmal schön.

Ich mag das Zeremonielle am Teekochen, das Entzünden des Teelichts am Stövchen – überhaupt: Stövchen! Was für ein wunderschönes Wort! Das sieht schon kuschelig aus –, das Bereitstellen der schönen Teetasse – wie meine Kaffeetassen aussehen, ist mir weitaus egaler –, das Befüllen des Milchkännchens, weil ich mir keine Milch aus der schnöden Tüte in mein herrliches Getränk kippen will; das Öffnen des Zuckerdöschens, auf dem ein winziger Deckel liegt, der ein ganz feines Geräusch macht, wenn man ihn wieder auflegt; das Rauslegen des Silberlöffels, die Auswahl an Teesorten – bei Kaffee habe ich koffeiniert und entkoffeiniert –, das Abzählen der Löffel im Gegensatz zum Kapseleinsetzen bei Nespresso –, dann das Entleeren der wassergefüllten Teekanne, die sich jetzt von außen wohlig warm anfühlt, das Aufgießen des Tees, was so schön verheißungsvoll duftet, die Wartezeit, bis ich endlich den Tee in die Tasse gießen kann, in der schon Milch und Zucker warten. Und dann der erste Schluck und schon bin ich nicht mehr genervt.

Vielleicht hätte ich morgens Tee statt Kaffee trinken sollen, fällt mir gerade auf. Merke ich mir fürs nächste Mal.

Was schön war, Montag, 24. Oktober 2016

Nächste Sitzung im Rosenheim-Seminar, in der ich meinen Referatstermin bekommen habe. Ich halte Anfang Januar, was einerseits okay ist, weil es mir noch viel Zeit lässt für mein derzeit ergebnisoffenes Rumwühlen im Nachlass von Weldens und die Findung einer Forschungsfrage. Gleichzeitig ist es schon fast zu spät im Semesterplan, denn ich schreibe in diesem Semester meine sogenannte Forschungsarbeit, die länger ist als die üblichen Hausarbeiten im Master. HA = 45.000 bis 50.000 Zeichen, Forschungsarbeit = ca. 70.000, Masterarbeit = 100.000 bis 120.000 Zeichen. Zum Vergleich: meine Bachelorarbeit sollte ca. 60.000 Zeichen haben; dafür hatte ich zehn Wochen Zeit und keine anderen Kurse mehr, während ich jetzt mehr schreiben muss und eine ähnlich lange Bearbeitungszeit habe – nur dass ich dazu noch in Geschichte eine Arbeit mit 50.000 Zeichen abgeben muss und für zwei Klausuren lerne. Aber das ist alles machbar. Trotzdem muss ich im Januar natürlich längst wissen, worüber ich schreibe, denn der Abgabetermin ist bereits der 15. März.

Mein Geschichtsreferat halte ich Anfang Dezember, das passt.

Am Tag der Bibliotheken natürlich in eine gefahren – bei mir war es die Stadtbücherei München – und neue Graphic Novels geholt. Ich habe irritierenderweise vor ein paar Tagen meine Mayorship der Unibibliothek verloren. Muss ich wohl doch wieder öfter bei Swarm einchecken. So geht’s ja nicht.

Beim Warten an der Bushaltestelle einen Wirsingeintopf auf Instagram gesehen und das geplante Abendessen kurzerhand umgeworfen.

Ostfriesentee und Butterspekulatius.

Davon gerührt gewesen, dass Grace Kelly Blumenbilder hergestellt hat. (Keine Ahnung warum.)

Mit der besten Freundin zwei Stunden telefoniert.

Was schön war, Sonntag, 23. Oktober 2016

Semesterbeginnkram erledigt. Seit dem ersten Semester habe ich Pappordner, in die die jeweiligen Unterlagen der einzelnen Kurse kommen. Am Ende jedes Semesters kommen alle Blätter, Handouts und was wir sonst noch so kriegen, in einen gemeinsamen Leitzordner, und die Pappordner sind wieder frei fürs nächste Semester. Gestern machte ich den gelben Ordner zum Ordner fürs Seminar über Menschenrechte (Amnesty International hat eine sehr gelbe Corporate Identity) und den roten zum Ordner über Rosenheim. Keinen Grund, ich hatte nur keine Lust auf den orangefarbenen oder den violetten.

Und wo wir schon mal am Schreibtisch waren, bibliografierte ich gleich noch ein paar Stündchen zu Amnesty rum.

Drei Hausarbeiten für Mama ausgedruckt. Ich hatte ihr Ende des ersten Master-Semesters meine Arbeit über Anselm Kiefer und Richard Wagner geschickt – schließlich war sie diejenige, die mich vor knapp 40 Jahren mit Wagner angefixt hatte –, woraufhin sie vor kurzem fragte, ob ich mal wieder ein paar Hausarbeiten hätte, sie hätte die so gerne gelesen. Also druckte ich ihr Kindheit im 19. Jahrhundert, das Nationalstadion Peking und Leo von Welden aus und wog den Stapel lieber, bevor ich eine Briefmarke aufklebte. 426 Gramm. Bis 500 Gramm reichen 1,45 Euro.

Ein neues Buch angefangen: The Internal Enemy: Slavery and War in Virginia, 1772-1832 von Alan Taylor, pulitzerpreisgekrönt, aber in keiner Münchner Bibliothek zu haben. Danke, Fernleihe, danke, UB Münster. Gefällt mir auf den ersten 50 Seiten sehr gut, sowohl vom Sprachstil her als auch von der Art, große Geschichte an einzelnen Personen zu erzählen – das mochte ich bei Kongo ja auch schon sehr gerne. Für mich spannend ist der Unterschied zur Zeit kurz vor dem Bürgerkrieg, als Sklaven von ihren weißen Herren gerne als schwache, dumme Menschen bezeichnet wurden, für die doch gut gesorgt würde und die sich um nichts kümmern müssten, was haben die bloß gegen ihren Zustand? Ts. Im Virginia der Revolutionszeit war den Weißen durchaus klar, dass die Schwarzen eine Gefahr für sie werden könnten, auch weil sie zahlenmäßig stark zunahmen. Die Furcht von einem Sklavenaufstand war viel präsenter als Mitte des 19. Jahrhunderts; Thomas Jefferson erwog sogar, alle Sklaven nach Afrika zu schicken (obwohl viele von ihnen ja schon in den USA oder den Kolonien geboren waren), was bei vielen Plantagenbesitzern eher schlecht ankam, sie wiesen auf die „general inconveniency of living without them“ hin. (S. 36.)

Hier turnusmäßig mal wieder mein Hinweis auf das in meinen Augen beste Buch über den Bürgerkrieg, Battle Cry of Freedom.

Eine Seminararbeit meines Kommilitonen über Sepp Hilz gelesen, von dem ein Briefwechsel mit Leo im Heimatmuseum Bad Aibling liegt. Gucke ich mir an. Aus der Arbeit konnte ich auch noch Literatur und weitere Archive entnehmen, die für mich vielleicht spannend sein könnten.

Seelachsfilet mit Kartoffelplätzchen und Möhren zubereitet und dabei den Fisch zum tausendsten Mal nicht heile aus der Pfanne gekriegt. Nicht instagrammt. Hatte überlegt, den Geschirrberg zu instagrammen (zwei Pfannen, zwei Töpfe, Kartoffelstampfer, diverse Besteckteile), aber das war mir zu doof. Hat trotz mieser Optik ganz hervorragend geschmeckt.

Was schön war, Samstag, 22. Oktober 2016

Was nicht ganz so schön war: Seit ich Mittwoch in der kalten Arena zum Fußballgucken war, macht meine Lunge wieder etwas mehr Geräusche als mir lieb ist. In der Nacht zum Samstag bin ich von meinem eigenen Pfeifen aufgewacht und habe seit Ewigkeiten mal wieder Spray dagegen genommen. (Dabei festgestellt, dass es schon abgelaufen ist – so lange habe ich es schon nicht mehr gebraucht.)

Den ganzen Tag über war ich etwas kurzatmig, was mich nicht gestört hätte, wenn mein Tagesplan nur daraus bestanden hätte, auf dem Sofa zu sitzen und ein Buch zu lesen. Aber eigentlich wollte ich gegen 17 Uhr aufbrechen und um 18.30 wieder im Stadion sein. Da mein ganzer Lungenscheiß aber vor fünf Jahren damit begonnen hatte, dass ich nicht anständig dick angezogen in einer kalten Arena gesessen habe, bin ich seitdem sehr vorsichtig. Inzwischen habe ich vernünftige Stadionklamotten und dazu noch eine Decke, aber ich merkte, dass meine Lust, zwei Stunden in der Kälte zu sitzen, nicht groß genug war. Scheiß auf die bezahlte Karte, Lunge geht vor. Also blieb es dabei, auf dem Sofa zu sitzen und ein Buch zu lesen.

Das war dann auch das Schöne am gestrigen Tag, denn viel mehr habe ich nicht gemacht. Ich kochte mir eine große Kanne Earl Grey, irgendwann abends dann noch ein Süppchen und las den ganzen Tag. Das Buch Franz Joseph I.: Kaiser von Österreich und König von Ungarn kann ich jetzt, wo ich es durch habe, weiterempfehlen. Es gibt einen guten Einblick in die lange Regierungszeit des Kaisers, Sisi kommt vor, übernimmt aber nicht die Hauptrolle, man erfährt viel über das Taktieren (oder das Nicht-Taktieren) und der Erste Weltkrieg beendet alles sehr unrühmlich. Ich habe gemerkt, wie sehr ich inzwischen daran gewöhnt bin, Fachliteratur zu lesen, die sich mit Darstellungen von einzelnen Akten eines Lebens oder winzigen Zeitausschnitten befasst, mit einzelnen Entscheidungen oder einem einzigen politischen Prozess. Ich erwischte mich öfter dabei zu denken, he, Moment, das ist alles, was du mir darüber sagen willst? Da gibt’s doch bestimmt noch viel mehr? Bis mir wieder klar wurde, dass das hier eben ein Überblickswerk ist. Und dafür ist es ziemlich klasse. (Und sehr gut lesbar.)

Was schön war, Freitag, 21. Oktober 2016

Vormittags wieder in Leo von Weldens Korrespondenz gehangen. Nicht leicht zu entziffern, aber allmählich komme ich in seine Handschrift rein und googele wie wild Namen, die er erwähnt und die ich glaube, lesen zu können, um zu gucken, wer sich noch in seinem Umfeld aufgehalten hat. Wenn er 1948 über eine geplante Ausstellung spricht, in denen fast nur Menschen auftauchen, die auch schon zu NS-Zeiten ausgestellt wurden, finde ich das schon sehr spannend.

Im Laufe meiner zwei Umzüge von Hamburg aus haben sich meine Habseligkeiten auf verschiedene Orte verteilt – der große Teil in meine kleine Wohnung nach München, die restlichen 20 Kisten Besitz auf den Dachboden meiner Eltern, die in der Nähe von Hannover wohnen. Beim ersten Umzug habe ich alles mitgenommen, was mir etwas bedeutet, was ich brauche und von dem ich wusste, das muss ich hier irgendwie unterkriegen. (Das Wichtigste waren mein geliebtes Sofa, auf dem ich nie Rückenschmerzen habe, und 40 Kisten Bücher in sechs Billy-Regalen.) Bei meinen Eltern landeten viel Geschirr, Blumenvasen, Küchengeräte, die ich selten benutze, Klamotten, die ich kaum anziehe und die ich nur deswegen nicht gleich weggeschmissen habe, weil sie als Pack- und Füllmaterial dienten. Je länger ich hier in München wohne, desto mehr fehlt mir aber Kleinkram wie ein bestimmter Teller, auf dem Futter besonders schick aussieht oder eine hohe, schmale Vase, in die man eine einzelne Blume stellen kann. Kleinscheiß halt. Braucht man nicht, um durch den Tag zu kommen, ist aber schön und macht mich glücklich. Und weil ich nicht mal eben nach Hannover spazieren kann, um einen Teller und eine Vase zu holen, setzte ich mich gestern in eine U-, eine S-Bahn und einen Bus, um zu Ikea zu fahren.

Das Praktische daran, mit Öffis zu Ikea zu fahren, ist: Man kann nicht besinnungslos Quatsch kaufen, weil man alles schleppen muss anstatt es in einen Kofferraum zu werfen. Das Unpraktische daran ist: Das ist egal, weil man ja zwei große Einkaufstüten dabei hat und notfalls auch noch die große blaue Ikeatasche an der Kasse erwerben könnte, wenn man sich doch nicht zurückhalten kann.

Ich habe mich halbwegs zurückgehalten und neben drei Tellern und einer schmalen Vase nur noch zwei Schälchen, zwei Packungen Servietten, neue Bettwäsche und eine Tischdecke erworben. Die wird zwar vermutlich nur zwei Wochen auf meinen Esstisch liegen, weil der sich im Laufe des Semesters sehr schnell in einen mit Büchern vollgepackten Schreibtisch verwandelt, aber ich habe mich gestern abend sehr über den Anblick gefreut.

Für Teelichter und Kerzen ist inzwischen mein Supermarkt zuständig und ich fühle mich immer ein bisschen schlecht, wenn ich das dort kaufe. Das ist doch klassische Ikea-Ware!

Abends endlich zwei Bücher von Pénélope Bagieu durchgelesen, die ich mir schon vor Wochen aus der Münchner Stadtbibliothek geliehen habe. California Dreamin’ ist ein Comic über Mama Cass Elliot, der auf Eddie Fliegels Biografie beruht. Der Band ist schwarzweiß und sieht fast aus wie eine Vorstudie zu einem farbigen Buch, aber mir hat das Flüchtige sehr gefallen. Die Story natürlich auch, und danach hatte ich einen fiesen Make your own kind of music-Ohrwurm.

Der zweite Band, Eine erlesene Leiche, erzählt von einer jungen Frau, die einen älteren Mann kennenlernt, und wo ich schon schlimmste Klischeebefürchtungen hegte, geht natürlich alles anders aus. Auch eine Empfehlung.

Was schön war, 12. bis 20. Oktober 2016

Die langen Madrid-Einträge haben mein tägliches Notieren total ruiniert, deswegen folgt jetzt ein Sammeleintrag, damit ich wieder in die Spur komme.

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Mittwoch, 12. Oktober

Wir fuhren mit der S-Bahn für lächerliche 4,30 Euro eine knappe Stunde von Madrid aus zu El Escorial. Das hatte ich mal in einer Vorlesung gesehen, und alles, was ich in Vorlesungen sehe und mir angucken kann, wird angeguckt. Eigentlich wollte ich nur die Bibliothek, die Basilika und ein Bild von Rogier van der Weyden sehen, aber irgendwie landete ich dann doch in der Tour, die einen ohne Abkürzungsmöglichkeit durchs halbe Kloster jagt. Ich war an diesem Tag etwas matschig, von den Bildprogrammen weder in der Kirche noch in der Bibliothek wirklich begeistert, wollte eigentlich nur Architektur gucken und sprintete dementsprechend durch alles durch. Dabei rannte ich allen Ernstes an Rogier vorbei, was ich erst merkte, als F. mich am Ausgang einholte (ich hatte mich ungeduldig abgesetzt) und fragte, wie er mir gefallen hätte. Muss ich wohl noch mal hin.

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Donnerstag, 13. Oktober

Irrwitzig früher Rückflug nach München. Ich konnte im Flugzeug immerhin etwas dösen und F., der alte Charmeur, überreichte mir zuhause dann auch das übliche Mitbringsel, wenn er weg ist: meine geliebte Flughafentoblerone. (Ja, die schmeckt anders. Ganz bestimmt.) Es war mir neu, dass ich auch Mitbringsel kriege, wenn ich auf der Reise dabei bin, aber bei Schokolade diskutiere ich natürlich nicht.

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Freitag, 14. Oktober

Ich buk Apfelkuchen, für den ich 150 g Butter brauchte. Ich wickelte ein neues Butterpäckchen aus, griff zum Messer, trennte einen Block ab und wog ihn – genau 150 g. Der alte Edeka-Spot, in dem die Fleischereifachverkäuferin die Wurst exakt abwiegt, ist einer meiner Lieblingsspots.

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Samstag, 15. Oktober

In Madrid waren wir zwar mehrmals essen, aber so richtig gemüsig war das nie. Ich befürchtete einen akuten Anfall von Skorbut und warf nach drei Stunden in der KuGi-Bib und der Erstellung des langen Prado-Eintrags hungrig ein komplettes Backblech voller Ratatouille-Zutaten. Dann googelte ich ein bisschen, ob man das Zeug noch irgendwie aufhübschen könnte und landete bei La Mia Cucina, wo der Tipp gegeben wird, das Gemüse nicht ewig zu backen, sondern ganz leicht mit Puderzucker zu bestäuben und deutlich kürzer zu grillen. Das habe ich gemacht (knapp 20 Minuten), danach mit Balsamico und Olivenöl abgeschmeckt und mit geröstetem Weißbrot verspeist. Bestes Essen seit langem. So simpel, so gut. Und hübsch isses auch.

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Sonntag, 16. Oktober

Ich gebe zu, dieser Eintrag ist arg fresslastig, aber ich merke seit einiger Zeit wieder, wie gut es mir tut, am Herd zu stehen und mir etwas mehr Mühe zu geben als nur Nudeln aufzusetzen, wozu es meistens nur reicht, wenn ich hungrig aus der Bibliothek komme. Sonntag gab’s mal wieder meine geliebte Suppe aus Naturreis und roten Linsen, die eher ein Brei ist und über die ich noch die restliche Zucchini und Aubergine gab, die ich nicht ins Ratatouille geschnitten hatte. Diese Suppe macht mich immer glücklich, ganz egal, was ich auf sie raufwerfe.

Montag, 17. Oktober

DAS WINTERSEMESTER FING AN, WO-HOO!

Ich saß im zweiten Teil des Rosenheimseminars, wo ich mich wieder mit Leo von Welden beschäftigen werde. Der Kurs ist sehr gut gefüllt, und es sind fast alle Teilnehmerinnen des letzten Semesters wieder mit dabei, was mich sehr freut. Außerdem verteilte der Dozent die Hausarbeiten, und so erfuhr ich endlich von meiner 1,0, auf die ich seit dem Notenschluss am 10. Oktober in unserem Onlinetool gewartet hatte.

Frohgemut fuhr ich zur Auer Dult, um mich mit Keramik zu belohnen, fand aber nicht mal ansatzweise irgendwas, was mir gefiel. Stattdessen ging ich zum Metzger, kaufte mir eine Hühnerbrust und verwandelte sie zusammen mit vielen bunten Tomaten in das nächste tolle Abendessen.

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Dienstag, 18. Oktober

Der lange Uni-Tag in diesem Semester. Von 10 bis 12 die Vorlesung zu osmanischer Architektur, von 14 bis 16 Vorlesung zu Iconic Architecture und von 17 bis 20 Uhr (Hass!) mein Aufbauseminar im Nebenfach zur Geschichte der Menschenrechte, weil mein hibbelig erwarteter Kurs zum Münchner Kunsthandel in der NS-Zeit ja nicht stattfindet.

Die Vorlesung zur osmanischen Architektur wählte ich nur so halbbegeistert, weil ich mich mit diesem Thema noch nie beschäftigt hatte und es auch eigentlich nicht wollte. Und dann stand da eine Dozentin vorne, die frei und gut verständlich sprach und als erstes Objekt – eine Jurte zeigte. Ein Zelt, Stichwort mobile Architektur. Danach kamen noch ein paar Folien mit Moscheen, die alle nicht so aussahen wie Klein-Anke sich Moscheen vorstellt, und damit hatte sie mich total im Sack. Große Vorfreude auf die nächste Sitzung.

Um 14 Uhr saß ich dann in der Vorlesung zu Iconic Architecture, die vom gleichen Dozenten gegeben wurde, bei dem ich schon das gleichnamige Seminar belegt hatte, in dem ich über das Nationalstadion in Peking schrieb. Das war im letzten Wintersemester und ich hatte gehofft, ein paar neue Objekte zu sehen, weil ich das Thema „Moderne Architektur“ so spannend finde und es im kunsthistorischen Kontext etwas stiefmütterlich behandelt wird. In den ersten 45 Minuten sah ich aber am Seminarplan, dass es um genau die Gebäude ging, die ich schon kennengelernt hatte und ging deshalb in der Pause. Irgendwo im Hinterkopf hatte ich die Idee, diesen Kurs im Halbschlaf bestehen zu können, aber als ich dann drin saß und nur Dinge hörte und sah, die ich schon kannte, merkte ich, nee, dafür bist du nicht an der Uni. Ich will was Neues lernen. Ich freue mich aber, dass jetzt noch andere die Gelegenheit haben, diese spannenden Gebäude kennenzulernen. Und ich habe mich auch über die beiden Studentinnen hinter mir gefreut, die fast jedes Bild leise kommentierten und beim Nationalstadion nur „Das ist so schön!“ sagten.

Um 17 Uhr drängelte ich mich mit knapp 30 anderen Studis in einen gerade so ausreichenden Raum, um mich den Menschenrechten zu widmen. Wir lernten erstmal den Unterschied zwischen Grund-, Bürger– und Menschenrechten und ich stellte fest, dass Jura doch nicht so schnarchig ist wie ich dachte. Dann ging es an die übliche Referatsverteilung. Ein Thema, das mich sehr interessierte, war im Semesterplan aber nur für Bachelors ausgewiesen: die Argumentation der Vertriebenenverbände nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich auf Menschenrechte beriefen. Das hätte ich gerne gemacht, weil es zum Zeitkomplex NS-Kunst und Leo von Welden gehörte, aber wie gesagt: nur für BAs. Das kannte ich noch nicht, dass ein*e Dozent*in die Themen unterteilt und speziell die ausweist, die sie für MAs geeignet hält. (Wir müssen 30 Minuten halten, die BAs nur 20.) So schnappte ich mir das zweite Thema, das mich anlächelte und von dem ich erwarte, dass ich hier Quellen bis zum Abwinken finden werde: Amnesty International.

Dann war der lange Tag rum und ich kochte wieder Zeug. Dieses Mal Nudeln, aber immerhin mit blanchiertem Wirsing und Walnusspesto dran. Das nächste Mal gebe ich mir mehr Mühe, die Wirsingblätter zu feinen Streifen anstatt zu groben Fetzen zu verwandeln.

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Mittwoch, 19. Oktober

Keine Uni, aber dafür einen Termin bei der Stipendienberatung.

Ich weiß, dass es für meine Karriere vermutlich völlig egal ist, ob ich promoviere oder nicht, ich bin eh zu alt für alles – jedenfalls nach den beknackten kapitalistischen Definitionen, dass man nur bis 35 irgendwie denken kann –, aber inzwischen ist das ein großer Wunsch für mich geworden. Ich würde mich gerne einem Thema mit viel Zeit widmen können und nicht immer nur die hektischen Monate eines Semesters. Da meine Ersparnisse nach dem Master aber so gut wie aufgebraucht sind – hey, ich hatte dann fünf sehr gute Jahre –, brauche ich Unterstützung.

Die LMU bietet in ihrer Beratung an, geeignete Stipendien für einen zu suchen, und man kann mit den fertigen Unterlagen wieder bei ihnen vorbeischauen und sich Feedback holen, bevor man sie in den Briefkasten wirft. Ich fand es spannend, dass jemand von außen auf mich draufguckt und mir sagt, was in meinem Leben bewerbungsrelevant wäre. Die guten Noten – klar. Das angestrebte NS-Thema – immer gut für politische Organisationen. Dann das Thema Engagement. Ich war der Meinung, ich hätte mich noch nie so recht engagiert bis auf Mitgliedschaft in einer Partei bzw. deren Jugendorganisation, aber die Dame meinte, ein Buch über dicke Frauen (Hilfe zur Selbstakzeptanz) sowie ein antidiskriminatorisches Weblog, das außerdem regelmäßig geführt wird, könnte man auch durchaus als gesellschaftliches Engagement bezeichnen. Auch die Tatsache, dass meine Eltern keine Akademiker*innen sind und ich die erste in unserer Familie bin, die a) einen Uniabschluss hat und b) vielleicht mal einen Doktortitel, liest sich gut im Lebenslauf.

Die Beratungsstelle ist im ehemaligen olympischen Dorf; eigentlich wollte ich noch ein bisschen über das Olympiagelände schlendern und dem schönsten Stadion der Welt – in dem man scheiße Fußball gucken kann im Vergleich zur Allianz-Arena – noch einen Besuch abstatten, aber es regnete. So fuhr ich nach Hause und las bei Tee und Butterspekulatius Briefe von Leo von Welden an seine zweite Frau, die in den 1940er und 1950er Jahren geschrieben wurden. Das fühlt sich alles immer noch sehr intim an, aber es ist unglaublich spannend, die Briefe zu lesen, weil ich inzwischen viel über den Mann und seine Kunstauffassung weiß.

Abends Fußball im deutlich kälter gewordenen Stadion. Am Samstag nehme ich meine Kuscheldecke mit.

Donnerstag, 20. Oktober

Cézanne und seine Zeit, die dritte Vorlesung, die eigentlich nur ein Ausweichtermin war, falls die osmanische Architektur mir egal sein sollte. Die wird von einem Dozenten gehalten, über den ich seit dem ersten Semester sehr geteilter Meinung bin, aber bei dem ich trotzdem jetzt das vierte Mal sitze. Er hat so einen gewissen Altherrencharme, den ich überhaupt nicht mag, und seine Vorlesungen sind zu 90 Prozent von Seniorstudis besetzt, die albern auf die Tische klopfen, wenn er – jedesmal in der ersten Sitzung – ansagt, dass bei ihm nicht gegessen und getrunken werden darf. Das ist natürlich okay, aber seine Claqueure gehen mir so auf den Zeiger, dass ich inzwischen immer denke, hey, viele alte Menschen trinken zu wenig, ihr solltet euch beschweren, dass ihr das hier nicht dürft anstatt arrogant auf die Zwanzigjährigen runterzugucken, die vielleicht gerade vier bis sechs Stunden Uni in den Knochen haben und abgehetzt in den Hörsaal sprinten, während ihr gerade vom Brunch kommt, seit einer halben Stunde im Saal die besten Plätze belegt und die Süddeutsche lest. (Knurr.)

Was mich aber immer wieder in seine Vorlesungen treibt: Kaum ein anderer Dozent beschreibt die Objekte so liebevoll wie er. Das sind winzige Adjektive, die er einstreut, pastos, pathetisch, gewagt, eigentlich alles normale Worte, aber er bringt sie immer da, wo ich sie nicht erwartet hätte. Oder er macht eine kurze Pause, wenn er auf das ganz besondere Blau des Himmels im diesem Bild hinweist, das nur als winziges Eckchen durch den Wald zu sehen ist, aber wir sollten mal drauf achten, wenn wir im Museum seien, dieses dunkle, tiefe Blau – und dann gönnt er uns drei Sekunden länger als nötig, damit wir uns daran erfreuen können, selbst wenn man es auf der PowerPoint kaum erkennen kann.

Er spricht frei, was eh die halbe Miete für eine gelungene Vorlesung ist, aber dabei sehr monoton, weswegen es mir manchmal schwerfällt, ihm zuzuhören. Aber wie gesagt: Ich sitze zum vierten Mal bei ihm, weil ich weiß, dass ich aus seinen Sitzungen immer sehr viel Grundsolides mitnehme. Bye-bye, iconic architecture, bonjour, Cézanne.

Abends Kürbissuppe in netter Gesellschaft.

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Und wie war eure Woche so?

Nachtrag: Was schön war, Dienstag, 11. Oktober 2016 – Madrid, Tag 2: Albora

Wenn wir einen Städtetrip machen, gucken wir gerne, ob die Möglichkeit besteht, ein Fußballspiel zu besuchen und außerdem, ob es ein nettes, bezahlbares Sternerestaurant um die Ecke gibt. Letzteres hat in Madrid im Gegensatz zum Fuppes geklappt – wir haben uns das achtgängige Menü im Albora gegönnt.

Was ich in Madrid ungewohnt und unerwartet fand: dass viele Menschen kaum oder gar kein Englisch sprechen. Hier hatten wir einen Kellner, der offensichtlich auswendig gelernt hatte, was er uns auf Englisch erzählen soll; bei Fragen war seine Sprache aber schon am Ende. War aber egal, wir waren zum Essen und nicht zum Quatschen hier. Einen Abend später hatten wir im Samarkanda eine Kellnerin, die uns zwar die englische Karte brachte, aber anscheinend nicht verstand, was in ihr stand; sie notierte sich buchstabengenau, was wir ihr zeigten. Hat auch funktioniert.

Das Albora ist eine schöne Mischung zwischen schick und schnuffig, die Decken sind niedrig, wodurch man sich angenehm unterhalten kann, das Essen war (bis auf kleine Ausreißer, die mein Gesamturteil aber nicht schmälern konnten) hervorragend, die Weine bis auf einen sehr gut, und das einzige, was ich wirklich zu bemängeln hätte, war das Tempo. Das war doch recht zackig, wir waren mit den acht Gängen plus Gruß aus der Küche, süßem Rausschmeißer und Espresso in knapp zweieinhalb Stunden durch.

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Der Teller zum Reinkommen – oder eher die Schieferplatte; das Zeug kann ich ja auch nicht mehr sehen: von rechts nach links knusprige Sardine, aufgeplusterter Mais mit Gurke und Meerrettich (lustig im Mund), das in der Mitte hab ich vergessen (Fisch?), irgendwas mit viel Käse (eher unlustig im Mund) und ein herrlicher Apfel-Blutwurst-Macaron. Bei Macarons habe ich immer ein schlechtes Gewissen beim Essen, weil sie so wunderschön aussehen. Also bevor man sie isst.

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Über den Serviervorschlag musste ich auch grinsen, weil es sich fast steinzeitlich anfühlte, aus diesem Klotz zu essen. Unter dem Blumenkohlschaum verbargen sich Schwertmuscheln und, laut Speisekarte, seafood curd. Den muss ich nicht noch mal essen. Das war wie Meeresboden ablecken; alles an Fischigem püriert und (gefühlt) ein bisschen Sand untergemischt.

Dafür war der Wein ein schöner Beginn: der Laxas Rias Baixas Albarino 2015 hatte viel unaufdringliche Aprikose. Die Weine hat sich F. allen Ernstes gemerkt, das kleine Elefantengehirn. Ich habe keine Tasting-Notizen gemacht, weil ich essen und trinken und so gerade noch fotografieren wollte, aber nichts aufschreiben. Deswegen habe ich auch in Madrid nicht gebloggt, weil ich gucken wollte, ohne schon im Hinterkopf den Blogeintrag auszuformulieren. (Hab ich natürlich trotzdem gemacht.)

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Ein kleiner Salat aus eingelegtem Perlhuhn mit Langustinen. Sah hübsch aus, ich hatte nichts am Teller zu meckern und am Essen noch weniger. Der Wein war mein Lieblingsweißwein des Abends: Im Carramimbre Rueda Verdejo 2015 war so richtig schön Grapefruit drin, die lange im Gaumen blieb. Kiste kaufen wollen.

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Umami pur mit Umami drunter: Wildpilze auf geräuchertem Eigelb. Das war schon fast zu intensiv an Aroma, aber der Verdejo kam gut damit klar.

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Garnelen in Babyoktopusbrühe (klingt schlimmer als es schmeckte) und Kohlrabi, der in Meeresfrüchteconsommé eingelegt wurde. Die Garnelen fand ich super, bei der Brühe musste ich mich etwas überwinden, aber das mag daran liegen, dass ich keine regelmäßige Fisch- und Meereszeugesserin bin. Genau deshalb bestelle ich ja diese Menüs, um aus meiner Rind- und Lammkomfortzone rauszukommen.

Der Wein war das einzige Meh des Abends, ein eher belangloser Manuel Manzaneque Finca Elez Chardonnay 2015.

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Mein Lieblingsgang, von dem ich blöderweise nicht mehr weiß, was er war. *patsch* Auf der Speisekarte stand nur fish of the day, er war weißfleischig (offensichtlich), schön fest, sehr zart und gerade mal mit einem Hauch Salz gewürzt. Er schmeckte frisch und nach Meer und nach Fisch, aber nicht fischig, und war ganz, ganz großartig. Erinnerte mich an das Rindfleisch im Theresa, was auch einfach nur schnickschnacklos nach Rindfleisch schmeckt. Dazu gab’s Avocado und Kartoffeln, womit man bei mir eh immer offene Türen einrennt, und ich war glücklich. Selbst der olle Chardonnay konnte hier mithalten.

(Edit: Alleswisser F. dee-emmt gerade: Der Fisch war Loup de Mer. Nächstes Mal frage ich ihn gleich, anstatt mich im Blog als Schrumpfkopf zu outen.)

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Kaninchen mit Kaffee, Schokolade und Leberschaum. Ich bin bei nicht-süßer Schokolade meist recht skeptisch, aber die hier war perfekt ausgewogen. Sie fing lieblich an, hörte aber wild-saftig-deftig auf, und der Leberschaum hat auch nicht so fies nach Leber geschmeckt wie es sich anhört. (Ich mag Leber.)

Jetzt ging’s mit den Rotweinen los. Zum Häschen gab’s einen wohlschmeckenden Pedrosa „Cepa Gavilán“ Crianza 2013.

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Noch mehr Wild, dieses Mal Hirsch, dazu rote Bete, schwarze Oliven und Mangold. Die Jogurtkleckse dazu waren der Hammer. Der Kellner fragte uns, ob wir den Tempranillo weitertrinken oder zu diesem Gang eventuell einen Rioja haben wollten, und wo wir schon mal da waren, nahmen wir natürlich einen Rioja. Wenn man uns so fragt. Ts. Der war auch richtig gut, schön tief und hach.

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Und schon waren wir beim Dessert. Hier hätte ich mir, wie angesprochen, eine kleine Pause gewünscht, aber nix da, es wurden gnadenlos Zitronen- und Ingwereiscreme mit Rosmarinschlotz („slush“) aufgetragen. Dazu gab’s einen Sherry, den ich absolut nicht austrinken konnte, so schwer war er. Ein leichter Süßwein wäre jetzt nett gewesen.

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Okay. Der Maiskolben da ist Maiseis und war großartig. Drumrum liegt Popcorn und weiteres süß-salziges Maiszeug, was auch toll war. Das Graue ist auch Eis, und ich fand graues Eis optisch so attraktiv und ausgefallen, dass ich völlig vergessen hatte, dass ich Trüffeln eher skeptisch gegenüberstehe. So war es auch hier; das Trüffeleis mochte ich überhaupt nicht, aber mit dem Mais zusammen ging’s runter. Ein leichter Süßwein wäre jetzt nett gewesen.

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Und dann warf man uns noch etwas lieblos ein paar Kleinigkeiten hin, die alle sehr schmackhaft waren, aber es wurde uns doch zu verstehen gegeben, dass nach uns vielleicht noch jemand anders den Tisch haben wollte. Es war überhaupt überraschend voll. Gut, am nächsten Tag war Nationalfeiertag, weswegen niemand früh ins Bettchen musste, aber dass noch Reservierungen für 23 Uhr angenommen wurden, fand ich sehr ungewohnt. Wir tranken trotzdem noch einen Espresso und verließen dann äußerst entspannt und satt das Lokal, um zur U-Bahn zu gehen.

Wir stiegen in Atocha aus, ich warf wieder sinnlos Pokébälle durch die Gegend und versuchte ebenso sinnlos, eine Arena zu erobern, denn das hatte noch nie geklappt. Und was soll ich sagen? Diesmal klappte es, dank meiner tollen türkisen Drachenkatze. (Das ist eine türkise Drachenkatze. Fresse.) Ich freute mich sehr: Meine erste Arena, die mir immerhin ungefähr 45 Minuten gehörte, war ausgerechnet der tolle Atocha-Bahnhof.

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Wir waren den ganzen Vormittag und den frühen Nachmittag im Prado gewesen, danach waren wir durch den botanischen Garten spaziert, dann hatten wir uns etwas ausgeruht (yay for Kuscheln!), bis wir uns langsam feinmachten und zum Essen fuhren. Und als Tagesabschluss hatte ich meine erste Arena erobert. Das war rundherum ein ganz wundervoller Tag.

Nachtrag: Was schön war, Dienstag, 11. Oktober 2016 – Madrid, Tag 2: Prado

In Madrid wollte ich drei Bilder unbedingt sehen: die Guernica (gleich am ersten Tag in der Reina Sofia erledigt) sowie Velázquez’ Las Meninas und Rogier van der Weydens Kreuzabnahme. Letzere hängen im Prado und dort gingen wir dann auch um kurz vor 10 hin, stellten uns in eine noch nicht allzu lange Schlange, freuten uns über die vier geöffneten Kassen und und waren ziemlich schnell im Museum, wo uns sofort eine Dame ansprach, ob wir an einer individuellen Führung interessiert wären. Waren wir nicht und im Laufe der ersten Besichtigungsstunde wurde ich auch immer nöliger auf diese Führungen. Auf Gruppen ist man in großen Museen als Besucherin ja eingestellt, durch die man sich irgendwie durchwuseln muss, gerade vor den Bildern, die alle sehen wollen (Kreuzabnahme, Las Meninas, ähem), aber dass man zusätzlich noch drei bis vier Einzelführungen hat, die gerne mit iPad oder großformatigen Ausdrucken zusätzliche Infos vermitteln wollen – hab ich nicht verstanden: Man steht doch direkt vor dem Bild, was soll dann noch ein Detail auf dem iPad? – und für eine weitere quatschige Geräuschkulisse sorgen, fand ich doch etwas nervig. Das gab sich aber nach einiger Zeit; wir waren ungefähr fünf Stunden im Museum (inklusive entspannter Mittagspause), aber die geballten Führungen waren fast alle zwischen zehn und elf Uhr morgens. Merke ich mir für den nächsten Besuch, denn in den Prado will ich dringend nochmal.

Dass man relativ schnell drin ist – wunderbar. Dass die Garderobendamen freundlich sind – Bonus. (Looking at you, Centre Pompidou.) Dass das Gebäude mit unglaublichem Zeug vollhängt – erwartbar. Aber wie clever vieles hing und wie viel ich durch diesen einen Besuch gelernt habe, dass hat mich doch sehr überrascht. Einziger Verbesserungsvorschlag: bitte statt der viel zu spärlichen Holzbänke plüschige Sofas wie im Kunsthistorischen Museum in Wien. Dieser Vorschlag gilt für alle Museen. Ein Traum, diese Sofas.

Wenn man durch den Eingang im ersten Stock das Museum betritt, begegnen einem gleich mal zwei Bilder, die das gleiche Motiv zeigen, nämlich Adam und Eva, die olle Schlange und den verführerischen Apfel. Das überrascht jetzt nicht, dass es mehrere Ausführungen dieses Motivs gibt (mir fallen spontan eine Milliarde ein), aber dass gerade diese beiden hier hängen, links Tizian, rechts Rubens, hat mich sehr gefreut, denn genau diese recht detailgenaue Gegenüberstellung haben wir mal in einem Seminar behandelt. Der Prado hat mit die meisten Rubens-Gemälde überhaupt, soweit ich weiß, und ich fand es sehr souverän, diesen einen nicht in den riesigen Rubens-Saal zu hängen, sondern keck zwischen die Tizians.

Ich guckte noch ein paar Italiener an, aber irgendwie wollte ich dringend zu van der Weyden. Gestern in der Reina Sofia brauchte ich ein paar Säle, bis ich mir genug Mut angeguckt hatte, um zur Guernica zu gehen, heute wollte ich die Tränen der Maria sehen, bevor ich mir den Rest des Museums vornahm. F. und ich blätterten im deutschen Faltplan, den man netterweise in die Hand gedrückt bekommt, fanden den richtigen Raum und machten uns auf den Weg ins Erdgeschoss, wo die flämischen Meister hingen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, an einigen Altären vorbeizuhuschen, aber auf den van der Weyden war ich schlicht zu gespannt, um noch länger zu warten.

In meinem ersten Semester an der Uni (awww, ich war mal so klein) habe ich eine Hausarbeit über Hans Memling geschrieben, der vermutlich ein Schüler van der Weydens war. Bei der Recherche zu Memling blätterte ich dementsprechend oft in van-der-Weyden-Katalogen und war damals schon fasziniert von seiner Malweise. Ich meine mich daran zu erinnern, den Begriff „Meister der Tränen“ irgendwo gelesen zu haben – und ich bin für diesen Blogeintrag extra nochmal brav in die KuGi-Bibliothek gestapft –, aber ich finde das nicht mehr wieder, also bitte nicht zitieren. Die Tränen in van der Weydens Kreuzabnahme waren mir aber noch vier Jahre später im Gedächtnis, weil sie mich schon in kleinformatigen Reproduktionen beeindruckt haben. Und nun konnte ich sie endlich in Originalgröße sehen.

Ich schaute auch zuerst auf Maria, die blassgeweint am Kreuz ihres Sohnes zusammenbricht. Obwohl Jesus der bildliche Mittelpunkt ist, geht mein Blick immer zu Maria. Vielleicht weil sie aus der eher strengen Ordnung ausbricht; wo fast alle Köpfe auf gleicher oder ähnlicher Höhe sind (den Diener auf der Leiter im Bildhintergrund mal ausgenommen), ist sie von Schmerz so überwältigt, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Sie wird zwar noch von Johannes dem Täufer und Maria Salome aufgefangen, aber sie scheint den beiden zu entgleiten, ihr Schmerz macht sie so schwer, so unhaltbar, während Jesus dagegen fast überirdisch leicht aussieht, als er von Josef von Arimathia und Nikodemus umfasst wird. Der Eindruck wird durch die Kleidung bzw. die fast vollständige Abwesenheit derselben verstärkt: Jesus trägt nur einen feinen weißen Schurz, während Maria in den schweren dunklen Stoffmassen fast versinkt, die sich um sie wölben und nach unten ziehen.

Ich mag die van der Weyden’schen Faltenwürfe sehr gern; sie haben noch nicht die sinnliche Stofflichkeit der Renaissance, die fast spürbare Weichheit, die zum Beispiel Raffael immer entwirft (hier eines meiner Lieblingsbilder von ihm). Bei van der Weyden sieht alles eckiger aus, scharfkantiger, als ob die Kleidung Widerstand leistet anstatt sich an einen Körper zu schmiegen. Die Personen sehen so aus, als würden sie von ihrer Umhüllung getragen und gestützt werden, fast wie ein Korsett trotz ihrer Weite. Ich mag dieses stoffliche Drama sehr gern, genau wie die vielen Details, in denen ich mich bei der Kreuzabnahme verlieren konnte: die feine Gürtelkordel von Maria Salome im grünen Kleid im Gegensatz zum schweren Gürtel von Maria Magdalena rechts im Bild, die kunstvoll gefaltete Haube von Maria Kleophas am linken Bildrand (erinnerte mich natürlich an die Berliner Dame, bei der ich mich nie an den Nadeln sattsehen kann), das reich mit Mustern bestickte Hemd des Dieners, das den Blick auf ein andersfarbiges Unterhemd freigibt, der Pelzbesatz vom Mantel Nikodemus’. Details wie das teilweise geronnene, teilweise noch fließende Blut, das an Jesus’ Körper entlangrinnt. Die Nägel, die der Diener in seiner rechten Hand hält. Und schließlich das Rankenwerk an den beiden oberen Ecken des Bildes, hinter dem ein halbes Tonnengewölbe sichtbar wird, was den Gesamteindruck verstärkt, dass diese Personen nicht lebendig und im Freien gemalt wurden, sondern Figuren in einem goldenen Kasten sind, vielleicht einem Altaraufsatz, in ihren Bewegungen erstarrt. Mich fasziniert genau dieser Gegensatz aus Steifheit und Dynamik; die Füße von Josef und Nikodemus sind verdreht, Johannes scheint gerade einen großen Schritt zu machen, der Schal des Dieners flattet hinter ihm, der violette Umhang von Maria Magdalena rutscht ihr gerade von der Hüfte, all das sollte Bewegung zeigen, aber stattdessen erschien mir das Bild überwältigend ruhig.

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(Ausschnitt aus Rogier van der Weydens Kreuzabnahme, Quelle: Prado-Website, wo man sich hochauflösende Bilder runterladen darf. Danke!)

Diese Ruhe spürte ich aber erst, als ich endlich mal fast alleine vor dem Bild war. Während die Gruppen sich in dem kleinen Raum drängelten, guckte ich mir die Hl. Barbara von Campin an, die ich aus einer Vorlesung kannte; seitdem weiß ich, dass zur heiligen Barbara ein Turm als Attribut gehört – der steht hier geschickt vor dem Fenster, anstatt dass sie ihn irgendwie in der Hand hält. Im Rijksmuseum sah ich eine Hl. Barbara, die ihn als Schmuckstück um den Hals trug, das fand ich auch sehr schön gelöst. An Campins Bild haben wir noch die Glaskaraffe auf dem Sims besprochen (Gegenstände aus Glas waren relativ neu in Nordeuropa) sowie die vielen Verzierungen an Bank und Schränkchen, die das Maßwerk von gotischen Kathedralen aufgreifen.

Außerdem verliebte ich mich in diesem Raum in einen weiteren van der Weyden, wo Jesus das macht, was Kleinkinder halt mit Büchern machen: Er knittert drin rum, während seine Mutter vermutlich denkt, nee, ist klar, da hat ja nur ein armer Mönch ein Jahr dran geschrieben, mach’s ruhig kaputt; Junge, wenn du nicht der Heiland wärst, gäb’s jetzt Fernsehverbot.

Im Nebenraum guckte ich länger auf auf das Triptychon der Jungfrau von Dirk Bouts, das aussieht, als würde es aus vier Tafeln bestehen. Es zeigt das Leben der Maria, aber noch spannender als die Panele selbst waren die Bögen um sie herum, die an Tympana erinnern, in denen vom Sterben ihres Sohnes erzählt wird.

Und dann waren endlich alle Gruppen weg, ich konnte fast alleine vor der Kreuzabnahme stehen und weitergucken. Ich wollte mich eigentlich nur innerlich von dem Bild verabschieden und weitergehen, aber es war um so vieles schöner und herrlicher als ich erwartet hatte, dass mir irgendwann die Tränen kamen. Mir wurde das klar, was ich gestern bei der Guernica noch nicht verstanden hatte: dass Schmerz unverkennbar ist, ganz gleich in welcher Form er dargestellt wird. Ob man nun gläubig ist oder nicht, ob man weiß, worum es in diesem Bild geht und wie die Personen heißen (musste ich größtenteils auch nachgucken), alles egal, wenn man vor diesem Bild oder der Guernica steht, entsteht eine Verbindung vom Künstler zur Betrachterin. Man muss nicht mal versuchen zu verstehen, was man sieht – man spürt es.

(Kleiner Einschub: Ich musste an den Ausschnitt aus Doctor Who denken, in dem van Gogh sieht, wieviele Menschen er mit seinen Bildern glücklich macht. Ein Kurator erzählt, dass es einfach sei, Schmerz darzustellen – damit hadere ich noch ein bisschen. Aus der Münchner Residenz kenne ich einige Christusfiguren, die schon fast sadistisch sind in ihrer Abbildung. Sie anzuschauen fühlte sich sehr anders an als vor der Kreuzabnahme oder der Guernica zu stehen. Ich glaube, es ist eine Kunst, Schmerz so wiederzugeben, dass er nachvollziehbar ist oder sogar so, dass man mitleidet und sich ihm entziehen möchte, wie mir das am Vortag bei der Guernica gegangen ist. Schmerz so darzustellen, dass man sich entsetzt statt mitfühlend abwendet, stelle ich mir einfacher vor.)

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(Ausschnitt aus Hieronymus Boschs Anbetung der hl. drei Könige, Quelle: Prado-Website)

Ein paar Räume weiter drängelte sich die nächste Menschentraube vor Boschs Garten der Lüste, das ziemlich toll ist, aber mich hat die Anbetung der hl. drei Könige noch mehr fasziniert. Eigentlich kann ich mit Bosch nicht so viel anfangen; ich glaube, den mag man in der Pubertät, wenn man Hesse liest und ahnt, was Kunst oder Literatur so können, wenn man sie lässt, aber irgendwann ist dann mal gut. Diese Meinung muss ich nun revidieren; statt des üblichen Drogenrauschs im Mittelalter sah ich hier ein unglaublich modernes Bild. Als Ausschnitt mal einen der Könige, den ich ewig angestarrt habe, weil ich dachte, oh, Kanye West. Das Flechtwerk auf der Schulter, der fransige Abschluss des Ärmels, der rote Drache auf dem Weihrauchgefäß! Oder der schwarze Diener dahinter, dessen Kopfschmuck aus einer Designsendung von heute kommen könnte. Oder die Schulterpartie des Königs in blau, leider etwas schwer zu erkennen, die aussieht, als ob man in eine Kristallkugel schaut, in der sich Szenen in einem kirchlichen Gewölbe abspielen – nicht aus Stoff, sondern wie aus einer anderen Dimension. Das war nicht der verrückte Bosch, der mich nur nervte, das war eine fast schon futuristische Detailverliebtheit, die ich noch nicht von ihm kannte.

Auch neu entdeckt: Goya. Den hatte ich bisher immer als ja, wichtig, weiß ich, pflichtschuldig abgespeichert und man kriegt in diversen Seminaren immer wieder die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 gezeigt, aber was so toll ist an diesem Bild, habe ich erst vor dem Original kapiert – weil es so perfekt neben dem Bild hängt, das den 2. Mai 1808 zeigt (auch im Wikipedialink zu sehen). Hier verstand ich endlich, warum Goya als der Beginn der Moderne galt. Während das Bild zum 2. Mai noch in der Tradition alter Schlachtenmalerei ausgeführt wurde, noch Pferde und Schwerter, fein gezeichnete Gesichter und Details zeigt und den Heldenmut von Soldaten abfeiert, sieht der 3. Mai ganz anders aus. Hier ist nichts mehr vom angeblich edlen Kampf zu sehen, die Figuren scheinen schneller, rascher, fast brutaler auf die Leinwand geworfen zu sein, der Bildausschnitt ist enger, alles ist düster statt hell erleuchtet, und niemand auf diesem Bild wird gewinnen. Im Zentrum steht ein Soldat, der erschossen wird; die Nähe zu Christus ist beabsichtigt, die ausgestreckten Arme und das weiße Hemd konnte ich auch schon in Reproduktionen erkennen, aber erst vor dem Original sah ich angedeutete Stigmata in der Handfläche. Zwischen den beiden Bildern besteht ein so großer Unterschied, dass ich es kaum glauben konnte, dass Goya sie zeitgleich gemalt hatte. Mit diesem Bild wird ein ganz neues Kapitel in der Kunstgeschichte begonnen, und im Prado habe ich endlich kapiert, warum.

Nebenbei: Goyas Black Paintings/Pinturas negras sind alleine schon den Besuch im Museum wert, und jetzt weiß ich auch, woher Mike Mignola die Figur des Hellboy hat.

Meine Güte, dieser Eintrag wird schon wieder hausarbeitenlang. Hier hängt aber auch so viel tolles Zeug!

Kurz erwähnen will ich noch Dürers Adam und Eva. Der Herr heißt in Spanien übrigens Alberto Durero, was F. und ich seitdem immer sagen, weil’s viel cooler ist. Hier hält auch Adam einen Apfel in der Hand, so dass ich mal die Interpretation wage, dass nicht nur Eva an allem schuld ist – oder sogar eher Adam, weil der Trottel ihr das Obst aufgedrängt hat, wer weiß das schon, man war ja nicht dabei.

Worüber ich mich sehr gefreut habe: dass ich endlich einen Cotán im Original sehen konnte. Sein Stillleben mit Wild, Gemüse und Früchten gilt als das erste spanische Stillleben – und schon fast als eins seiner letzten, denn er hat gerade mal sechs angefertigt. Das zweite, was im Wikipediaeintrag über ihn verlinkt ist, habe ich im zweiten Semester in einer Vorlesung gesehen und seitdem nicht mehr aus dem Kopf gekriegt. Ich finde es so clever, Dinge aufzuhängen und in eine strenge Ordnung zu bringen anstatt wie sonst in Stillleben alles zu Türmchen und Bergen aufzuhäufen, um Pracht und Reichtum zu zeigen. Cotáns Abbildung ist streng und ordentlich und kommt mir wie aus der Zeit gefallen vor. (Hier sieht man schön, wie sich Hamen Y Leon knapp 30 Jahre später von ihm inspirieren hat lassen.)

Neu entdeckt habe ich José de Ribera, dessen Einsatz von Licht und Schatten natürlich von Caravaggio inspiriert wurde, aber mir schien es hier noch kantiger, nicht so weichgespült, nicht auf Effekt und Pose hin gearbeitet. Mir hat besonders seine Darstellung von Jakob gefallen.

Und irgendwann landeten wir dann bei dem Bild, über das die Kunstgeschichte seit Jahrhunderten brütet: den Las Meninas. Ich erwähnte gestern bereits, dass ich die Guernica erst von der Seite sah anstatt frontal, was den Eindruck aber nicht schmälerte; im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass ich mich erstmal an das Riesending rantasten durfte. Auf die Las Meninas steuerten wir geradeaus zu, als wir den betreffenden Saal betraten und das verstärkte den Bildeindruck ganz wunderbar. Ich persönlich brüte nicht mehr über das Bild, ich glaube, dass Velázquez im Bild das Königspaar malt, das im Spiegel zu sehen ist und wir als Betrachter*innen kurz dessen Position einnehmen. Auch deswegen ist es so irritierend, auf das Werk zuzugehen, weil man die ganze Zeit das Gefühl hat, Velázquez beobachtet einen. Wenn die Mona Lisa einen die ganze Zeit anschaut – so wurde mir das jedenfalls erzählt –, ist das bestimmt nett, aber hier guckt einen ein konzentrierter Maler an, der gerade seinen Job erledigen will, könnten wir bitte mal stillstehen? Und komischerweise macht man als Betrachterin ja auch genau das: Man steht still vor dem Bild. Tolles Ding.

F. und ich verglichen die weiteren Königsporträts im Saal, bedauerten den armen Hund am unteren Bildrand – F. hatte sich ein paar Säle vorher in einen traurigen Goya-Hund verguckt und litt seitdem vor sich hin –, dann ließen wir Rubens links liegen, bewunderten noch ein paar Raffaels und machten bei den Venezianern schlapp. Ich jedenfalls. Nach fünf Stunden wollte und konnte ich nicht mehr, aber wir hatten fast das ganze Museum geschafft und das sogar konzentriert. Damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet, aber es zeigte mir, wie spannend die Hängung war, wie gut man sich bewegen konnte, wieviele Querverbindungen man ziehen konnte – und dass man eben auch einfach mal irgendwo durchrennen konnte, ohne das Gefühl zu haben, etwas zu verpassen. Man sieht unglaublich viel und es hat mir sehr viel bedeutet, hier gewesen zu sein. Da fahre ich auf jeden Fall noch mal hin. Alleine für den knitternden Jesus.

Ein sozialwissenschaftlich-biografisches Dankeschön …

… an Hanna, die mich mit Didier Eribons Rückkehr nach Reims überraschte. Ich weiß nicht mehr, ob ich durch Tweets von malomalo oder mediumflow oder diesen Merkur-Text auf das Buch aufmerksam wurde, aber es klöterte im Hinterkopf herum. Und weil ich gerade ein Semester mit Bourdieus Habituskonzept und biografischem Schreiben hinter mir habe, bin ich neugierig darauf. Vielen Dank für das Geschenk und die Widmung – ich habe mich sehr gefreut.

Nachtrag: Was schön war, Montag, 10. Oktober 2016 – Madrid, Tag 1

F. und ich verbrachten im September letzten Jahres einige Tage in Amsterdam mit Kunstgucken, ein bisschen Sterneessen und Rumliegen (letzteres mehr von mir als von ihm wahrgenommen). Vor einigen Wochen meinte der Mann dann so, lass uns doch vor deinem Semesterbeginn wieder ein paar Tage in eine schöne Stadt fahren. Ich so: Vielleicht Paris, damit ich mir endlich mal die Mona Lisa angucken kann? F. so: Vielleicht Madrid, damit du dir endlich mal Guernica angucken kannst? Ich überlegte ungefähr eine Sekunde und dann sagten mein Bauch und ich: Madrid.

Spanien stand, wenn ich ehrlich sein darf, noch nie auf meiner Urlaubsliste, aber das Stichwort Guernica reichte, um es da satt draufzupacken. Die Guernica begleitet mich seit fast 40 Lebensjahren, denn sie ist eins der Bilder in meinem allerliebsten Kinderkunstbuch, über das ich hier schon mal kurz schrieb. (Ich möchte inzwischen allerdings den letzten Absatz streichen.) Eltern – wenn ihr dieses Buch noch auf eBay findet: kaufen und verschenken. Das dauert vielleicht 40 Jahre, bis der Nachwuchs Kunstgeschichte studiert, aber es ist wirklich ein tolles Ding.

Nur wegen dieses Buchs saßen F. und ich Montag dann in einem Iberia-Flieger, der uns nach Madrid brachte. Iberia hat anscheinend nur kleine und satte Kunden; ich (knapp unter 170 cm groß) bin noch nie mit den Knien schon in normaler Sitzhaltung an den Vordersitz gestoßen – hier schon. Ich hatte immerhin den Fensterplatz, so dass ich irgendwie seitwärts oder mit einem ausgestrecken Bein sitzen konnte, aber ich weiß echt nicht, wie Menschen über 1,80 das aushalten. Verpflegung gibt’s an Bord nur gegen Bares, und es läuft die ganze Zeit Musik; super, wenn man schlafen möchte, um die unbequeme Sitzhaltung zu vergessen. Dafür war der Flug natürlich billiger als die Lufthansa, aber beim nächsten Mal werfe ich lieber wieder Geld raus.

Außerdem – aber das ist vermutlich nicht die Schuld von Iberia – legte mein Hardcoverbuch aus der Unibibliothek eine sehr seltsame Verhaltensweise an den Tag: Nach gut einer Stunde in der Luft bog sich das Cover leicht nach oben. Im Hotelzimmer war alles wieder normal. Auf dem Rückflug passierte dasselbe: in der Luft verbogen, in der S-Bahn vom Flughafen München nach Hause wieder gerade. Keine Ahnung, was das war. Seltsamer Bibliothekskleber, der nicht auf 10.000 Meter Höhe eingestellt ist?

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In Madrid landeten wir am recht neuen Terminal 4, bei dem ich Wetten darüber abgeschlossen hätte, dass Santiago Calatrava es gestaltete; die hätte ich aber verloren – Richard Rogers und Estudio Lamela waren es. Sowohl Abflug- als auch Ankunftshalle sind im Gatebereich eine einzige große Halle mit geschwungenem Dach und hohen Stützen. Was mich so fasziniert hat: wie ruhig es war. Das mag an den wenigen Lautsprecherdurchsagen liegen – am Abflugstag hörte ich eine Ansage, dass kein Boarding angesagt würde, was ich ziemlich okay finde; an Bushaltestellen blökt ja auch niemand über Mikro, dass jetzt die 5 nach Nedderfeld kommt –, aber ich glaube, es liegt an der Höhe und eben den Dächern. Eine sehr angenehme Atmosphäre.

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Vom Terminal brachte uns die Cercanías (we call it S-Bahn) bis Atocha. Dass wir ausgerechnet dort, quasi direkt am Bahnhof, ein Hotel gefunden hatten, freute mich, weil ich vor einiger Zeit das schöne Leaving the Atocha Station von Ben Lerner gelesen habe. Es geht um einen amerikanischen Autoren, der ein Literaturstipendium erhalten hat und nun in Madrid sitzt und nicht schreiben kann. Spanisch kann er auch nicht besonders gut, und das waren die Stellen, die mir im Buch mit am besten gefallen haben – wenn er beschreibt, was er glaubt zu verstehen. Das wird im Laufe des Buches immer weniger, er findet, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Sprache. Ein Beispiel, wie schön ambivalent dieses Halbverstehen klingen kann: „He told me he owned or worked at a gallery in Salamanca, the ritziest neighborhood in the city, and that his brother or boyfriend was either a famous photographer, sold famous photographs, or was a famous cameraman.“

Das Hotel Mediodia sieht von außen weitaus toller aus als es innen ist, aber ich kann es trotzdem weiterempfehlen: sauber, richtig gute Betten, quasi direkt am Bahnhof, lauter puschelige Fukanos vor der Tür und nur eine Minute Fußweg zur Reina Sofia – da hängt Guernica –, aber recht hellhörig und, totaler Minuspunkt, beim so halbwegs okayen Frühstücksbuffet gibt es kein vorgeschnittenes Obst. Das muss ich als Im-Urlaub-morgens-Müsli-oder-Cornflakes-mit-Obst-drin-Esserin anprangern. Dafür gibt es überraschend wohlschmeckenden Kaffee aus einer Metallbox, die mindestens 100 Liter fasst und auch noch warme Milch spendet. Das hat mich damit versöhnt, morgens immer abwechselnd einen Löffel Schokopops zu essen und dann in einen Apfel beißen zu müssen.

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Aber wie gesagt: eine Minute vom Museum weg. Das da oben links ist es mit seinen zwei transparenten Außenfahrstühlen, bei denen ich dann halt zur Wand geguckt habe, am nächsten Morgen bei schönerem Licht aus dem Hotelzimmer raus fotografiert. Apropos Fahrstuhl: Als wir im Museum nach oben fuhren, stiegen wir zu zwei asiatisch aussehenden Herren und nach uns kamen noch zwei weitere Gäste (vom Akzent her Amerikaner*innen). Der eine asiatische Herr hatte die ganze Zeit den Finger auf dem „Tür bleibt offen“-Knopf, bis alle drin waren und drückte ihn wieder, als wir ausstiegen. Bis vor kurzem hätte ich das einfach als höfliche Geste abgespeichert, aber inzwischen weiß ich: Das gehört sich in Japan so.

F. und ich begannen im zweiten Stock, wo hauptsächlich spanische Malerei des 20. Jahrhunderts hängt. Um eine Pointe schon vorwegzunehmen – für mich blieb es fast das einzige Stockwerk, ich wollte nach der Guernica nicht mehr viel sehen, schlenderte noch halbherzig durch eine Retrospektive von Marcel Broodthaerst, war aber nicht mehr bei der Sache, während F. sich noch spanische Kunst nach 1945 gab. Die nehme ich dann nächstes Mal mit.

Ich mochte die dämmerige, unscharfe Abgewandtheit von Isidre Nonells Head of a Gipsy Woman – ich habe mir nur die englischen Titel notiert, weil ich die spanischen nicht verstanden habe – und verliebte mich in die lesende Dame von Julio Romero de Torres, von dem ich dringend noch mehr sehen möchte. Das sieht man am Bildschirm nicht ganz so schön, aber die Lampe und die Tischoberfläche schimmern in einem irritierend modernen Mintgrün, das mich sehr fasziniert hat. Die Dame, die selbstbewusst dem male gaze widersteht, natürlich auch.

In einem weiteren Raum gab es Dada – okay, das ist jetzt nicht ganz spanische Malerei des 20. Jahrhunderts, aber ich mochte es sehr, dass ein Dadagedicht ständig über Lautsprecher eingespielt wurde. Der ganze Raum bekam so eine zusätzliche Dimension, die einem half, die Bildwerke … nicht zu verstehen, aber sich ihnen zu nähern. Ich huschte nur durch Miró (ist nicht so meins), weil ich aus einem weiteren Raum Wagner hörte; das war natürlich Buñuels Andalusischer Hund, neben dem aber noch zwei Dalís hingen, von dem ich auch nicht unbedingt eine Freundin bin, aber die beiden Werke gefielen mir gut so zwischen Kubismus und Surrealismus. Den Link unter „zwei Dalís“ mal kurz anklicken, dann sieht man eine hübsche Eigenart der Website des Museums: eine nach Sälen geordnete Auflistung aller Werke. Vorbildlich. Man durfte in den meisten Räumen ohne Blitz oder Stativ fotografieren, bei der Guernica allerdings nicht, was ich sehr okay fand.

Von Ignacio Zuloaga ist mir Bleeding Christ aufgefallen, bei dem mir der titelgebende Jesus fast wie Staffage vorkam und nicht wie das zentrale Motiv. Das Bild wirkt auch durch seine Größe (248 x 302 cm); es nimmt eine ganze Wand eines kleinen Nebenraums ein und wirkt dadurch noch pastoraler – obwohl Christus hier nicht über den Menschen steht (wie wenn er sich am meist hoch aufragenden Kreuz befindet), sondern auf Augenhöhe. Aber auch die ist hier kaum gegeben, weil sein Gesicht völlig verdeckt ist. Wie gesagt: Staffage. Spannend.

Nebenbei: Die genannten Herren kannte ich alle nicht. Ähem. Auch den nächsten nicht: Von Óscar Domínguez beeindruckten mich mehrere Bilder, obwohl sie surrealistisch sind (man ahnt es schon: nicht so meins). Am besten hat mir Guanche Cave gefallen, weil es bedrohlich ist (die kleine Figur oben, unter der so vieles schlummert), aber gleichzeitig befreiend (die kleine Figur oben, unter der so vieles schlummert). Am liebsten mochte ich dann, bevor ich mich endlich zu Picasso traute, die Telluric Art, die mit weichen, geometrischen Formen und Erdtönen einen ganz eigenen Eindruck der spanischen Landschaft wiedergibt.

Und dann kam die Guernica. So sieht der Raum aus, in dem sie hängt; um diesen Raum herum befinden sich weitere kleinere, die dem spanischen Pavillon von 1937 des Pariser Salons nachempfunden sind. Man kann den großen Raum von zwei Seiten betreten; ich wusste nicht genau, was mich erwartete, F., der schon mal dort gewesen war, ließ mich auch alleine durch die Gegend wandern, wofür ich sehr dankbar war. Wie gesagt, dieses Bild ist eines der ersten, das ich explizit als Kunst wahrgenommen habe; ich weiß, dass es ein wichtiges Bild ist, ich weiß, wie einflussreich es ist, ich kenne seine Details sehr gut, weil ich das Bild sehr oft angesehen habe. Aber eben noch nie in seiner ganzen Größe.

Ich wusste nicht genau, in welchem der Räume das Bild hing, also ging ich ziellos und sah es zum ersten Mal von der rechten Bildseite aus und nicht frontal, was die zweite Möglichkeit gewesen wäre. (Wie groß der Unterschied vielleicht hätte sein können, fiel mir einen Tag später im Prado vor Las Meninas auf.) Aber so sah ich es eben im Anschnitt, natürlich sieht man es schon, bevor man im Raum steht, das ist bei den gewaltigen Ausmaßen auch kein Wunder. Ich hatte mich auf eine starke emotionale Reaktion eingestellt – ich kenne mich ja inzwischen ein bisschen –, aber in den ersten Minuten mit dem Bild war ich ganz die brave Kunsthistorikerin. Das Museum war nicht sehr voll, mit mir standen nur wenige Menschen vor der riesigen Leinwand. Rechts und links neben dem Bild saßen zwei Aufpasserinnen, die uns zuguckten, wie wir Picasso anschauten. Das irritierte mich etwas, das Bild sah so bewacht aus, das hatte einen ganz leicht militärischen Touch, was mich im Bezug auf den Bildinhalt nachhaltig verwirrte. Das war natürlich nicht so gemeint und klar ist es schöner, da zwei Aufpasserinnen hinzusetzen und einen kleinen metallenen Abstandshalter in Kniehöhe zu ziehen anstatt das ganze Bild unter Panzerglas zu packen, damit ihm nichts passiert, aber die beiden erinnerten mich spontan an Soldaten an Ehrenmalen, und das störte irgendwie.

Das konnte ich aber irgendwann in den Hinterkopf packen, auch wenn ich immer noch darüber nachdenke, ob die beiden wohl ein Blog schreiben über Menschen, die sich Picasso angucken (People looking at Guernica). Ich finde, das sollten sie tun. Egal. Ich schweife schon wieder ab, dabei ist mir das vor dem Bild gar nicht so gegangen. Dort fuhr ich mit den Augen erstmal die ganzen Details ab, die ich schon so lange kenne. Als Kind fand ich die Lampe mit den gezackten Lichtstrahlen sehr unheimlich; Licht ist doch nicht zackig, das ist doch da und überall und weich und hell, aber doch nicht so scharf und gemein. Das zerbrochene Schwert habe ich, glaube ich, schon als Kind verstanden, genau wie die generelle Aussage, das hier Menschen fürchterlichen Schmerz empfinden. Im Kunstbuch stehen ein paar Zitate von Kindern; eins meinte, es sehe dort aus wie in der Hölle. Das Detail, was mich immer fertig macht, ist die Mutter mit dem leblosen Kind im Arm am linken Bildrand; die leeren Augen sind für mich der Teil des Bildes, der mir am stärksten in Erinnerung geblieben ist. Wie viel man sagen kann mit einer Leerstelle.

Was ich bisher noch nie sah: Zwischen dem Stier und dem Pferd befindet sich ein Vogel, der schwarz auf schwarzem Grund gemalt wurde. Der ist mir auf Reproduktionen noch nie aufgefallen.

Ich stand recht lange einfach nur da und guckte, ging die ganzen knapp acht Meter Leinwand nach und nach ab, schaute das Bild frontal an, ging nach rechts, nach links, ging weiter weg, ging näher heran, ließ anderen Besucher*innen den Vortritt, ging aber nicht weg. Es kam keine große Emotion, ich merkte aber, wie ich sehr tief atmete – und wie weh es tat, dieses Bild anzuschauen, auch wenn man es schon so oft gesehen hat. Die Traurigkeit, die in mir aufstieg, kam, so dachte ich, nur bedingt durch das Bild, sondern eher durch das Wissen, was es beschreibt, was Menschen anrichten können, wie wenig sie lernen oder lernen wollen, wie sehr sich der Bildinhalt wiederholt, immer und immer wieder. Ich schaute auf das tote Kind mit den leeren Augen und dachte an Alan Kurdi und den blutüberströmten Jungen in Aleppo. Und dann musste ich weg von dem Bild, weil ich plötzlich überfordert war von der Macht und der Größe des Schmerzes, die sich von der Leinwand auf mich übertrug.

Seit ich studiere, höre ich keine Audioguides mehr und lese auch selten etwas nach, wenn mir ein Bild in einem Museum gefallen hat (außer für Hausarbeiten); ich habe auch jetzt beim Verlinken nicht durchgelesen, was zu den Werken auf der Website steht. Ich gucke inzwischen einfach. Ich komme in einen Saal, sehe drei, vier Bilder, die ich anschauen möchte, und das mache ich dann, der Rest wird ignoriert. Ich kann nicht alles in einem Museum anschauen und inzwischen will ich das auch gar nicht mehr. Ich gehe also irgendwo hin, stelle mich vor eine Leinwand und lasse das Werk etwas mit mir machen. Oder auch nicht; es gibt genug Bilder, die nichts in mir auslösen. Deswegen freue ich mich, wenn ein Bild etwas bewegt. Vor Guernica war ich allerdings erschrocken, wieviel ein Bild machen kann, da musste ich irgendwann wirklich weggehen, weil ich sonst im Museum angefangen hätte zu weinen. Ich glaubte, wie gesagt, dass es eher das Wissen um die unendliche Blödheit der Menschen war, die mich so fertiggemacht hat, aber als mir einen Tag später im Prado vor Rogier van der Weydens Kreuzabnahme unerwartet die Tränen kamen, merkte ich, nee, das ist schon das Bild. Das sind zwei Bilder, die ganz schlicht und gleichzeitig fürchterlich brachial Schmerz zeigen. Der Grund für diesen Schmerz ist egal, ob es jetzt Krieg ist oder der Tod des eigenen Kindes, selbst wenn man gar nicht weiß, was überhaupt dargestellt wird, spürt man den puren, gewaltigen Schmerz. Der kommt in der Guernica durch die Abwesenheit jeder Farbe und irreale, verstörende Details zum Ausdruck, in der Kreuzabnahme durch eine überirdische Schönheit, leuchtende Farben und Detailtreue, die zwei Bilder könnten kaum unterschiedlicher sein. Aber sie zeigen eine so starke Emotion, der ich mich irgendwann nicht mehr entziehen konnte. Bei der Guernica konnte ich mich noch abwenden, sie verdrängen, aber einen Tag später holte sie mich wieder ein. Verdammte Kunst. Großartige Kunst.