Bücher April/Mai 2014

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Donna Tartt – The Goldfinch

Der erste Roman von Donna Tartt, The Secret History, ist das Buch, das ich am meisten in meinem Leben verschenkt habe. Als ich es vor 20 Jahren das erste Mal las, habe ich es nicht aus der Hand legen können, es aber danach jeder und jedem aufgedrängt. Ich traue mich seit dieser Zeit nicht, es noch einmal zu lesen, denn ich habe es als eines der beeindruckendsten Bücher in Erinnerung, die ich je gelesen habe und den Eindruck möchte ich behalten.

Zehn Jahre später begann ich ihren zweiten Roman The Little Friend – und kam nicht über 100 Seiten hinaus. Keine Ahnung warum, aber das Buch hat bei mir überhaupt nicht funktioniert und ich war ein bisschen verstimmt, dass ich nach zehn Jahren Wartezeit nicht noch mal begeistert wurde. Was man als Leserin halt so macht mit Erwartungen an AutorInnen.

2013 erschien der dritte Roman Tartts: The Goldfinch. Und das ist wieder eines der Bücher, das ich jeder und jedem aufdrängen möchte. Das mag daran liegen, dass die Hauptfigur in diesem Werk keine Figur ist, sondern ein Gemälde: Der Distelfink von Carel Fabritius, das sich der 13-jährige Theo mit seiner Mutter in Museum anschaut, als eine Bombe explodiert und nichts mehr ist, wie es vorher war. Im Laufe des Buchs lernen wir seinen Vater kennen, bei dem er in Las Vegas lebt, seinen Schulkameraden, dessen Eltern ihn fast wie ein eigenes Kind behandeln – und dann doch gar nicht so, wir sehen Theo beim Großwerden zu und was das Erwachsensein und die damit verbundene Verantwortung mit ihm macht, aber bei all dem haben wir ein Bild im Hinterkopf, das Tartt meiner Meinung nach meisterhaft zusammenfasst:

„The wooden panel was tiny, ’only slightly larger than an A-4 sheet of paper’ as one of my art books had pointed out, although all that dates-and-dimensions stuff, the dead textbook info, was as irrelevant in this way as the sports-page stats when the Packers were up by two in the fourth quarter and a thin icy snow had begun to fall on the field. The painting, the magic and aliveness of it, was like that odd airy moment of the snow falling, greenish light and flakes whirling in the cameras, where you no longer cared about the game, who won or lost, but just wanted to drink in that speechless windswept moment. When I looked at the painting I felt the same convergence on a single point: a flickering sun-struck instant that existed now and forever. Only occasionally did I notice the chain on the finch’s ankle, or think what a cruel life for a little living creature – fluttering briefly, forced always to land in the same hopeless place.“

Während ich das Buch las, konnte ich nie beschreiben, was mich genau so daran fasziniert hat. Auch jetzt, nachdem das Leseerlebnis ein paar Wochen her ist, kann ich es nicht. Ich kann den Stil Tartts nicht in Worte fassen, ich weiß nicht, warum ich so an ihren Sätzen hänge. Vielleicht ist es ähnlich wie mit Bildern, von denen sie in The Goldfinch schreibt, dass die besten von ihnen sich für jeden anfühlen, als wären sie genau für sie oder ihn gemalt. Bilder, die 500 Jahre alt sind, Bilder, die fünf Jahre alt sind, ProfiguckerInnen, KunsthistorikerInnen, Unbeteiligte, die im Museum gelandet sind, weil es draußen regnet, für jeden von ihnen hängt ein Bild an der Wand, das bei ihnen bleibt. So fühlt sich The Goldfinch für mich an. Es ist für mich geschrieben worden.

„And in the midst of our dying, as we rise from the organic and sink back ignominiously into the organic, it is a glory and a privilege to love what Death doesn’t touch.“

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Noah Sow – Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus

Sow schreibt wütend über Rassismus, der sich manchmal als total gut gemeinte Diskussion um das N-Wort in Kinderbüchern tarnt, als echt überhaupt nicht diskriminierend gemeintes Schwarzschminken von weißen SchauspielerInnen, als hungerndes, großäugiges afrikanisches Kind in Anzeigen zur Weihnachtszeit, überhaupt das Wort „Afrika“, das mal eben locker diverse Länder und Kulturen unter einen Hut packt, wo Deutsche und Franzosen sich das wahrscheinlich verbeten würden, gemeinsam irgendwo unter „Europa“ subsumiert zu werden, weil wir ja total unterschiedlich sind (angeblich, keine Ahnung). Das Buch hat mich öfter überraschend können und ich war genauso oft dabei, mich an meine weiße, doch eigentlich aufgeklärte Nase zu fassen. Große Leseempfehlung.

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Heinz Ohff – Der grüne Fürst: Das abenteuerliche Leben des Hermann Pückler-Muskau

Der Hermann von Pückler-Muskau war anscheinend ein toller Hecht – so klingt jedenfalls diese Biografie, die das Fanboytum leider nie ganz abschütteln kann. Ich mochte an dem Buch, dass es manchmal von der Person Pückler-Muskaus abschweift und ihn einordnet in seine Zeit und sein Land; das hätte von mir aus auch alles mit ein paar Sätzen mehr abgehandelt werden können. Es liest sich sehr entspannt weg, denn Ohff hat einen lockeren Plauderton drauf, der einen schön über die Seiten schunkeln lässt. Dabei lässt er aber manchmal ein bisschen Distanz vermissen. Ich hätte mich gefreut, den Fürsten auch mal hinterfragt zu sehen. Dass er ein alter Schwerernöter gewesen zu sein scheint, geschenkt – aber ich hätte gerne gewusst, warum sich so viele Damen auf ihn einließen und dass eine Beziehung oder noch besser Heirat zu dieser Zeit für Frauen so ziemlich die einzige Möglichkeit war, etwas aus sich zu machen. Ich hätte gerne etwas mehr über den Sklavenhandel erfahren, der es Pückler-Muskau ermöglichte, sich eine junge Frau zu kaufen und mit nach Preußen zu nehmen. Das politische und historische Umfeld bekommt ein bisschen Platz (wie gesagt, gerne mehr davon), aber das persönliche kommt mir deutlich zu kurz. Vielleicht weil es so schmeichelhaft und exotisch ist, aber genau diese Einordnung habe ich dem Buch etwas übel genommen.

Pückler-Muskau war außerdem ein begnadeter Gartenarchitekt – seine Parks gibt es heute noch (Branitz, Muskau) –, und wenn das schon sein großes Talent neben dem Schreiben war, hätte ich mich auch hier über mehr Details gefreut: Was genau ist das Tolle an seinen Parks? Worin unterscheiden sie sich von den bisher üblichen im entstehenden Deutschen Reich? Was hat er aus England und dessen Gärten mitgenommen oder verändert? Seine schriftstellerischen Leistungen kommen immerhin in ein paar Zitaten zu Wort, und die machen auch große Lust darauf, mehr von ihm zu lesen. Fazit also: kann man gut weglesen, taugt aber nur als kumpeliger Einstieg in die Person Pückler-Muskaus und seine Zeit. Vielleicht bin ich aber auch gerade nur von der Uni und ihren wissenschaftlichen Texten versaut.

Apropos wissenschaftliche Texte: Was ich sonst noch so gelesen habe, kommt jetzt ohne Rezension und Bildchen. Nicht, dass hier langsam der Eindruck einsteht, ich lese nix mehr. Ha, sage ich da nur, HA!

Barth, Dieter: Zeitschrift für alle. Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in Deutschland, Münster 1974.

Belgum, Kirsten: Popularizing the Nation: Audience, Representation and the Production of Identity in ‚Die Gartenlaube‘, 1853–1900, Lincoln/Nebraska 1998.

Boeckelmann, Walter: „Zur Konstruktion der Fensterbank- und Leibungsschrägen in der Einhartsbasilika zu Steinbach im Odenwald“, in: Kunstgeschichtliches Institut der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (Hrsg.): Karolingische und ottonische Kunst. Werden, Wesen, Wirkung, Wiesbaden 1957, S. 141–149.

Brückner, Wolfgang: „Trivialisierungsprozesse in der bildenden Kunst zu Ende des 19. Jahrhunderts, dargestellt an der ‚Gartenlaube‘“, in: De la Motte-Haber, Helga (Hrsg.): Das Triviale in Literatur, Musik und bildender Kunst, Frankfurt/Main 1972, S. 226–254.

Brugger, Walter/Von Bomhard, Peter: „Bau- und Kunstgeschichte des Klosters Frauenchiemsee“, in: Brugger, Walter/Weitlauff, Manfred (Hrsg.): Kloster Frauenchiemsee 782–2003. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer altbayerischen Benediktinerinnenabtei, Weißenhorn 2003, S. 521–612.

Burandt, Walter: „Bauforschung am Portal der Klosterkirche“, in: Dannheimer, Hermann: Frauenwörth. Archäologische Bausteine zur Geschichte des Klosters auf der Fraueninsel im Chiemsee, München 2005, S. 373–383.

Dannheimer, Hermann: „Ludwig oder Tassilo? Archäologische Beobachtungen zur Baugeschichte der Torhalle des Klosters Frauenwörth“, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 68 (2003), S. 123–128.

Dannheimer, Hermann: „Die Kirche“, in: Dannheimer, Hermann: Frauenwörth. Archäologische Bausteine zur Geschichte des Klosters auf der Fraueninsel im Chiemsee, München 2005, S. 10–41.

Dannheimer, Hermann: „Die Klöster auf den Chiemsee-Inseln“, in: Sennhauser, Hans Rudolf (Hrsg:) Pfalz – Kloster – Klosterpfalz. St. Johann in Müstair: Historische und archäologische Fragen. Tagung 20.–22. September 2009 in Müstair. Berichte und Vorträge, Zürich 2010, S. 127–137.

Dopsch, Heinz: „Gründung und Frühgeschichte des Klosters Frauenchiemsee bis zum Tod der seligen Irmengard“, in: Brugger, Walter/Weitlauff, Manfred (Hrsg.): Kloster Frauenchiemsee 782–2003. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer altbayerischen Benediktinerinnenabtei, Weißenhorn 2003, S. 29–55.

Dopsch, Heinz: „Die Frühgeschichte der Chiemseeklöster und die historischen Quellen“, in: Sennhauser, Hans Rudolf (Hrsg:) Pfalz – Kloster – Klosterpfalz. St. Johann in Müstair: Historische und archäologische Fragen. Tagung 20.–22. September 2009 in Müstair. Berichte und Vorträge, Zürich 2010, S. 139–145.

Exner, Matthias: „Die früh- und hochmittelalterlichen Wandmalereien im Kloster Frauenchiemsee“, in: Brugger, Walter/Weitlauff, Manfred (Hrsg.): Kloster Frauenchiemsee 782–2003. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer altbayerischen Benediktinerinnenabtei, Weißenhorn 2003, S. 115–153.

Fahle, Hanna: Geschichte der Abtei Frauenwörth ab 782, Lindenberg im Allgäu 2009.

Gruppe, Heidemarie: „Volk“ zwischen Politik und Idylle in der „Gartenlaube“ 1853–1914, Frankfurt/Main u. a. 1976.

Jacobsen, Werner u. a. (Hrsg.): Vorromanische Kirchenbauten, München 1991.

Kirschstein, Eva-Annemarie: Die Familienzeitschrift. Ihre Entwicklung und Bedeutung für die deutsche Presse, Berlin 1937.

Koch, Marcus: Nationale Identität im Prozess nationalstaatlicher Orientierung. Dargestellt am Beispiel Deutschlands durch die Analyse der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ von 1853–1890, Frankfurt/Main u. a. 2003.

Lobbedey, Uwe: „Buchbesprechung“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 31 (1966), S. 238–245.

Milojčić, Vladimir: Bericht über die Ausgrabungen und Bauuntersuchungen in der Abtei Frauenwörth auf der Fraueninsel im Chiemsee 1961–1964, München 1966.

Oswald, Friedrich: „Beziehungen der Klosterkirche Frauenchiemsee zur Baukunst Oberitaliens im 11. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 29 (1966), S. 311–314.

Oswald, Friedrich: „Zur Forschungssituation von Frauenwörth im Chiemsee nach dem Erscheinen der Publikation ‚Hermann Dannheimer: Frauenwörth. Archäologische Bausteine zur Geschichte des Klosters auf der Fraueninsel im Chiemsee‘“, in: Kunstchronik: Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege. Mitteilungsblatt des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker 62 (2009), S. 20–31.

Sedlmayr, Hans: „Die Fresken“, in: Milojcic, Vladimir: Bericht über die Ausgrabungen und Bauuntersuchungen in der Abtei Frauenwörth auf der Fraueninsel im Chiemsee 1961–1964, München 1966, S. 253–274.

Strobel, Richard/Weis, Markus: Romanik in Altbayern, Würzburg 1994.

Zimmermann, Magdalene: Die „Gartenlaube“ als Dokument ihrer Zeit, München 1967.

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Kunst gucken: PLAYTIME, Kunstbau im Lenbachhaus, München

(Dieser Eintrag steht auch in meinem Zweitblog, wo die Bilder etwas größer sind.)

Der Kurs Spaces of Experience wird immer mehr zur Wundertüte. Am Anfang dachte ich, naja, da gucken wir uns halt ein paar Museen an, was soll sich da schon groß unterscheiden, das sind ja immer Räume mit Zeug drin, aber je länger der Kurs dauert, desto spannender werden die Einblicke. Wir waren zum Beispiel in der Alten Pinakothek, wo wir über den Einfluss von Wandfarben und Licht auf die Kunstrezeption sprachen. Danach kam das Bayerische Nationalmuseum dran, in dem ich die sogenannten period rooms kennenlernte – also Räume, die so gar nicht dem heute gewohnten white cube entsprechen, sondern Räume, die die BesucherInnen in eine bestimmte Stimmung versetzen sollen, indem durch Einrichtung und Gestaltung des Raums eine Epoche erweckt wird. So gibt es Räume, die an eine gotische Kirche erinnern, wieder andere sind im Stil von römischen Thermen gestaltet, und ein dritter ist quasi selbst das Ausstellungsstück: Die Holzvertäfelung der Augsburger Weberstube wurde auf eine eigens dafür gestaltete Wand aufgebracht, so dass man sich wirklich wie im 15. Jahrhundert fühlt. Was eine wissenschaftliche Auseinandersetzung aber erschwert – der Kurator erwähnte, dass man die Wandvertäfelung natürlich auch auf ein Stahlgerüst hätte anbringen können, aber das war Ende des 19. Jahrhunderts – aus der Zeit stammt der Raum – noch nicht en vogue.

Dann kam die Hypo-Kunsthalle, die sich von den bisherigen Museen dadurch unterschied, dass sie keine ständige Sammlung hat, was die Organisation von Ausstellungen erschwert. Normalerweise laufen die Deals zwischen Museen flapsig ausgedrückt so: „Leihst du mir deinen Kirchner, leihe ich dir meinen Picasso.“ Diese Möglichkeit hat die Hypo-Kunsthalle nicht, weswegen sie meist mit anderen Museen kooperiert, das heißt, eine Ausstellung findet nacheinander an zwei Orten statt. Was das andere Museum davon hat? Ganz simpel: mehr Einnahmen. Ein Beispiel: Bei einer Kooperation mit dem Kunsthistorischen Museum in Wien waren die Einnahmen durch Kataloge deutlich höher als bei einer Einzelausstellung im KHM – aus dem schlichten Grund, dass das KHM eher eine Touristenattraktion ist. Touris gucken sich die Kunst pflichtschuldig an, wollen aber keinen schweren Katalog mit nach Hause schleppen. Die Hypo-Kunsthalle wird eher von MünchnerInnen besucht bzw. Menschen, die gezielt diese eine Ausstellung sehen wollen, und die geben dann auch mal 40 Euro aus und tragen drei Kilo Papier in die U-Bahn. Schon werden deutlich mehr Kataloge zur gleichen Ausstellung verkauft und beide Museen haben was davon.

Was ich an dem Haus auch spannend finde, ist seine variable Ausstellungsarchitektur. Die Räume sind sehr wandelbar, weswegen ich bei der von uns besuchten Dix-Beckmann-Ausstellung auch fast in den Ausgang anstatt in den Eingang gelaufen wäre, denn der lag bei meinem letzten Ausstellungsbesuch (Pracht auf Pergament, 1000 Jahre alte Bücher) eben am anderen Ende. Diese Ausstellung kam für mich etwas früh; jetzt, mit meinem ganzen frisch erworbenen Mittelalterwissen, könnte ich sie viel mehr würdigen. Aber ich war ja damals schon eine brave Besucherin und habe 40 Euro für drei Kilo Papier ausgegeben und kann mir daher jetzt immerhin noch den Katalog angucken.

Dann kam das Haus der Kunst und die Matthew-Barney-Ausstellung zu seinem Film River of Fundament, die mich überraschenderweise doch beeindruckt hat (hatte ich nicht erwartet). Hier fand ich natürlich besonders die Geschichte des Hauses spannend, die inzwischen auch wieder sichtbar ist. Wo nach dem 2. Weltkrieg versucht wurde, die klassische Nazi-Architektur zu verschleiern, wurde nach und nach bewusst zurückgebaut. Blöderweise habe ich mir ausgerechnet das Wort „Blutwurstmarmor“ für die rostroten Säulenverkleidungen gemerkt. Und noch mehr sinnloses Wissen: Die Fliesengröße der Fußböden ist im ganzen Haus unterschiedlich, je nachdem wie langsam oder schnell man die BesucherInnen an den Werken vorbeiführen will. In der ehemaligen Ehrenhalle – die heutige Mittelhalle, also der Riesenraum, in den man reinkommt, wenn man geradeaus durchgeht – sind die Fliesen ungefähr ein mal einen Meter groß: perfekte Stechschrittweite. Im ersten Stock, wo die kleinen Bildwerke hängen, sind es ungefähr 50 mal 50 Zentimeter, damit man sich möglichst langsam bewegt. Und im Erdgeschoss, da wo jetzt gerade Barney vor sich hinmonumentiert, liegen Fliesen, die ungefähr 65 mal 65 Zentimeter groß sind: die „Schlenderfliesen“. Der Begriff ist seit dem Besuch gnadenlos in meinem Wortschatz.

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Tehching Hsieh, „One Year Performance 1980-1981 (Waiting to Punch the Time Clock)“
Photograph by Michael Shen
© 2014 Tehching Hsieh
Courtesy the artist and Sean Kelly, New York

Letzten Mittwoch besuchten wir den Kunstbau des Lenbachhauses, also diesen lustigen Ausstellungsraum an der U-Bahn-Station Königsplatz, wo man aus dem Haus raus auf die Rolltreppen zur U-Bahn guckt und umgekehrt die U-Bahn-Gäste beim Runterfahren ein bisschen Kunst mitkriegen. Die Ausstellung: PLAYTIME. Ich zitiere von der Ausstellungswebsite (Binnen-I, yay):

„Arbeit verspricht nicht nur Selbstverwirklichung, sondern auch soziale Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe. Nicht zuletzt deshalb hat in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben stattgefunden. Das Paradox von Arbeit liegt heute vor allem darin, dass der arbeitende Mensch durch die zunehmende Automatisierung und Technisierung überflüssig zu werden scheint, während gleichzeitig alles zu Arbeit wird. (…)

Die Ausstellung PLAYTIME knüpft an die in Jacques Tatis gleichnamigen Film geäußerte, feinsinnige Kritik der modernen Arbeitswelt an und stellt verschiedene Fragen: Wie setzen sich KünstlerInnen unterschiedlicher Generationen und Hintergründe mit dem Thema Arbeit auseinander? Was bedeutet künstlerisches Arbeiten heute? Und inwiefern unterscheidet sich künstlerische Arbeit von anderen Formen der Arbeit?“

Die Ausstellung versammelt Videokunst, Zeichnungen, Fotografien, Dokumentationen von Performances und Objektkunst und ist damit von vornherein sehr abwechslungsreich. Noch spannender sind natürlich die einzelnen Auseinandersetzungen mit dem Thema – und für mich als Kursteilnehmerin bzw. Studentin wie immer die Hintergrundinfos bzw. Diskussionen mit der Kuratorin. So habe ich zum Beispiel noch nie darüber nachgedacht, ob es sich um verschiedene Kunstwerke handelt bzw. sich das Wesen des Werks ändert, wenn sich das Medium ändert, mit dem es wiedergegeben wird.

Eines meiner liebsten Werke war Martha Roslers Semiotics of the Kitchen von 1975 (hier auf YouTube zu sehen), das ich im letzten Semester im Kurs über amerikanische Kunst seit 1945 kennengelernt habe. Dieses Werk habe ich zum ersten Mal vollständig in einem Ausstellungskontext gesehen und das fühlte sich ein bisschen an wie einen Klassiker zu lesen. Rosler setzt sich mit der Rolle der Frau auseinander, die traditionell in der Küche verortet ist. Sie zeigt, wie auf Shopping-Kanälen, verschiedene Küchenutensilien in alphabetischer Reihenfolge in die Kamera, nutzt sie aber nicht so, wie wir heute im Zeitalter von kuscheligen Foodblogs eine Pfanne oder ein Messer zeigen würden, sondern geht aggressiv mit ihnen um bzw. nutzt harte, abgesetzte Bewegungen statt des klischee-igen Umgangs, den man erwartet. Wir haben uns generell bei den Videoinstallationen gefragt, ob es noch das gleiche Kunstwerk ist, wenn es von einer DVD abgespielt wird. Es gibt durchaus KünstlerInnen, die genau vorgeben, wie ihr Werk wiedergegeben werden soll – auf welchem Gerät welcher Bauweise, in welchem Abstand stehen eventuell Sitzgelegenheiten davor oder eben nicht, soll der Raum dunkel sein, muss es überhaupt ein Extraraum sein usw. Gehört die Wiedergabe des Werks noch zum Inhalt oder ist es eine Äußerlichkeit, die verhandelbar ist?

Ein weiteres Kunstwerk hat mich länger beschäftigt: Tehching Hsieh hat mit seinem Time Clock Piece eine einjährige Performance geschaffen, die viele Dokumente erzeugte. Sein Werk: ein Jahr lang, jeden Tag zu jeder vollen Stunde eine Karte in einer Stempeluhr stempeln. Was mich so irre macht an diesem Werk, ist der schiere Aufwand an körperlicher und geistiger Kraft, die dazu nötig ist, ein Jahr lang nie richtig durchzuschlafen und nichts wirklich machen zu können, weil es alle 60 Minuten unterbrochen wird. Von einem Jahr ausgesprochener Anstrengung bleibt nichts übrig, was irgendeinen Nutzen hat, wenn man schlichte kapitalistische Maßstäbe anlegt. Was stattdessen übrig bleibt, sind Berge von Stempelkarten, ein Video, das den Künstler bei jedem Stempeln zeigt sowie Fotos, auf denen das gleiche zu sehen ist. Hier fand ich eben diese Dokumente spannend, denn Hsieh überlässt es den jeweiligen Museen, was sie von diesem Werk ausstellen: alles? Nur eine Stempelkarte oder 150? Nur das Video und nicht die Bilder? Nur ein paar Bilder und kein Video? Ich finde dieses flexible Kunstwerk sehr interessant, mal abgesehen von der Performance an sich, die mir fassungslose Bewunderung abringt.

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Julian Röder, from the series: „Human Resources“, 2007–2009
backlight illuminated A1A transfer print in aluminium frame, 70 x 50 cm
Courtesy the artist and Russi Klenner, Berlin

Ich habe mich gefreut, mal einen Blick auf Andrea Frasers Untitled von 2003 werfen zu können, denn davon hatte selbst ich, die immer noch erschreckend ungebildet ist, was zeitgenössische Kunst angeht, etwas gehört. Ich zitiere die Künstlerin, die den Begleittext zu ihrem Werk selbst verfasste:

„Das Projekt Untitled begann im Herbst 2002, als Fraser den Galeristen Friedrich Petzel bat, einen Sammler zu finden, der an einem Projekt partizipieren würde, bei dem dieser Sex mit der Künstlerin in einem Hotelzimmer haben würde und die Begegnung auf einem vorab gekauften Videoband dokumentiert werden sollte. Der Verkauf war arrangiert und die Künstlerin und der Sammler trafen sich in einem Hotel in New York Anfang 2003. Das entstandene Video, das bis auf die Löschung des Tons unbearbeitet blieb, wurde als Kunstwerk definiert; von der Auflage von fünf erhielt der teilnehmende Sammler die Auflagennummer 1/5.“

Fraser stellt das Werk nur noch äußerst selten in Sammelausstellungen aus; stattdessen ist es fast ausschließlich in ihren Werkschauen zu sehen. Umso mehr hat es mich gefreut, es im Kunstbau zu finden. Auch hier ist die Aufstellung wichtig: Man sieht dem tonlosen Video auf einem kleinen Monitor zu, der in Kniehöhe in einer Ecke gedrängt steht. Man kann sich nicht hinsetzen und entspannt einem Geschlechtsakt zugucken, sondern lungert irgendwie komisch-voyeuristisch im Museumsgang rum. In unserer Gruppe kam die Frage nach dem Jugendschutz auf, woraufhin die Kuratorin erklärte, dass man sich bewusst gegen irgendwelche Hinweisschilder entschieden habe, sondern die Menschen an der Kasse angewiesen sind, Familien mit Kindern oder Jugendliche darauf hinzuweisen, welche Art Material zu sehen sein wird. Die Idee fand ich sehr gut; das Kunstwerk bekommt so keinen seltsamen Schmuddelcharakter, und einen persönlichen Hinweis finde ich eh netter als noch mehr Schilder bzw. Text an den Wänden. Wobei ich dessen Menge sehr angenehm fand.

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Ausstellungsansicht PLAYTIME
Dieter Roth, „Solo Szenen“
Dan Perjovschi, „Still Drawings Moving News“
Foto: Lenbachhaus
Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

Weitere Lieblinge der Ausstellung waren die Bürozeichnungen von Peter Piller, die zwischen 2000 und 2004 entstanden. Als Angestellter einer Medienagentur verarbeitete er den schnarchigen Büroalltag auf dem Firmenbriefpapier, das jetzt mit Sätzen und Bildern versehen gerahmt im Museum hängt. Oder die Fotoserie Human Resources von Julian Röder. Erst in dieser Ausstellung ist mir die Perfidie dieses Begriffs so richtig aufgefallen. Außerdem die Wandbemalung von Dan Perjovschi. Er gestaltete, mit dicken Eddings ausgestattet, die Wandfläche direkt am Eingang und stimmt einen so auf die Ausstellung ein. Mir kam sein Werk zwar eher politisch motiviert vor anstatt dass es dem Motto der Ausstellung folgte, aber vielleicht ist es bei ihm eher die Arbeit des Wandbeschriftens an sich und nicht so sehr der Inhalt, der passt. Er leistet für die Ausstellung eine Arbeit, und mit dem Ende der Schau endet auch sein Werk, denn die Wände werden wieder überstrichen. Das fasst er übrigens selbst ganz rechts unten in der Ecke zusammen: “They pay me to mess with their walls, can you believe it?”

PLAYTIME läuft noch bis zum 29. Juni. Den Katalog kann man sich tollerweise für lau als eBook runterladen. Keine 40 Euro, keine drei Kilo Papier.

Links vom 20. Mai 2014

Was machen die da: Markus Trapp, Stabsstelle Social Media

Auf Was machen die da könnte ich eigentlich jede Woche verlinken, das ist immer faszinierend. Dieses Mal besonders, jedenfalls für mich. Im Rahmen des Studiums lungere ich neuerdings sehr gerne in Bibliotheken rum. Im Historicum weiß ich, die Luft ist gut und man kriegt immer einen Platz, in der Stabi gibt es jedes Buch dieses Planeten (und jede Zeitschrift), in der KuGi-Bib sind die bequemsten Stühle der ganzen Uni, in der Musikwissenschaft kann man über Kopfhörer Klavier spielen, in der Zentralen Lehrbuchsammlung sitzt man um ein Atrium rum und hört den Windows-Startton über vier Stockwerke weg, und am vergangenen Wochenende lernte ich auch mal die Germanistik-Bib kennen, in der diese langen Leitern auf Rollen an den Regalen stehen, auf denen man bis unter die Decke klettern kann. Das wollte ich schon immer mal machen!

Wo ich auch gerne rumhänge: in digitalen Bibliotheken. Ich bin völlig fasziniert davon, was zum Beispiel die Bayerische Staatsbibliothek alles digitalisiert hat bzw. zu welchen Aufsatzdatenbänken ich über die UB Zugang habe. Wenn ich jemals nicht mehr studieren werde (kann ich mir gerade gar nicht vorstellen), brauche ich Bibliotheksausweise, bis mein Portemonnaie quietscht. Auf diesen Berg an Wissen will ich nie wieder verzichten müssen.

Darum geht’s zwar eigentlich gar nicht im Beitrag über Herrn Trapp, den ich eher als @textundblog kenne, aber ich dachte, ich erzähle euch das trotzdem mal, wie toll Bibliotheken sind. Die Stabi in Hamburg, in der Trapp arbeitet, ist auch toll, und mein Lieblingsschließfach ist Dante.

„Wir haben Zeitungsdigitalisierungsprojekte, wo mehrere Millionen Zeitungsseiten aus dem 19. und 20. Jahrhundert eingescannt werden, die man dann mit Volltextrecherche abfragen kann, das sind spannende Sachen. Da brauche ich Leute, die mir das sagen. Die mir sagen, wir haben hier gerade was, das wär doch was fürs Blog. Am Anfang habe ich von ganz vielen Kollegen Mails bekommen wie: »Herr Müller hat gesagt, ich soll Ihnen was schicken fürs Blog«, und da merkst du schon, die wollen das gar nicht, sie finden das doof, aber sie haben es aufgedrückt bekommen. Ich sehe meinen Job darin, den Leuten nicht mit dem Zeigefinger zu sagen, ihr müsst doch sehen, dass das wichtig ist, sondern ich versuche erstmal, sie zu verstehen. Ich merke, für die ist das alles Humbug.

Viele denken, wer ins Internet schreibt, hat zu viel Zeit, das ist unseriös. Aber sie geben mir ihre Informationen, ich mache einen Blogartikel draus und versuche, das ein bisschen aufzubereiten, damit es schön aussieht. Dann schicke ich ihnen den Link und schreibe: vielen Dank für das Material, gucken Sie nochmal drüber, ob alles in Ordnung ist, und dann wird es online geschaltet. Das bringt die auch noch nicht hinterm Ofen hervor. Aber dann passiert es ganz oft, dass Leute im Netz begeistert sind. Dass sie twittern: »boah, ich bin hier seit 4 Stunden in den historischen Karten der Stabi unterwegs«. Und dann kriegt diese Frau Müller eine Mail von mir: »gucken Sie mal, hier haben Sie jemanden glücklich gemacht«. Zwei Wochen später schreibt sie mir: »wir haben jetzt noch mal ein paar neue Karten digitalisiert, wollen Sie da noch mal drauf hinweisen?« Und dann merke ich, die bekommen jetzt mit, dass das wirklich etwas Sinnvolles ist. Die Leute nutzen unsere Angebote ja, es werden eben auch auf Twitter und Facebook nicht nur Essensbilder gepostet oder Gute Nacht und Guten Morgen.

Kaiser Ludwig in München

Eins meiner liebsten Geschichtsseminare, in der ich die ganzen Grundwissenschaften wie Urkundenlehre (Diplomatik) oder Schriftkunde (Paläografie) usw. lerne, hat als Oberthema Ludwig IV., besser bekannt als Ludwig der Bayer. In München kommt man gerade nicht um ihn rum, denn wir feiern sein 700. Königskrönungsjubiläum (Kaiser wurde er 1328); vor einigen Tagen eröffnete eine große Ausstellung über ihn in Regensburg, und seit gestern ist eine Browser-App online, die ein LMU-Geschichtsseminar im letzten Semester erstellt hat. Mit ihr kann man durch München wandern und Stätten entdecken, an denen Ludwig gewirkt hat oder wo noch etwas von ihm oder seiner Regentschaft zu sehen ist.

PS: Das Bild, das auf der Startseite der App bzw. im Browser angezeigt ist, ist die älteste bekannte Stadtansicht Münchens von 1493 aus der Schedel’schen Weltchronik.

William Morris

Ihr solltet einfach alle William Morris kennen und euch vor allem seine Stoffmuster in der William Morris Gallery angucken.

Bonuscontent

Bilder vom Königsplatz schaden ja nie. Über den bzw. meine Zuneigung zu ihm müsste ich auch mal bloggen.

Kresse-Brot-Gnocchi mit grünem Spargel

Zum Geburtstag bekam ich nicht nur Kochbücher zu indischer und libanesischer Küche, sondern auch zu was total Benachbartem: Bayern. Einmal das Bayerische Kochbuch, das wahrscheinlich in jedem zweiten Haushalt hier im Süden rumsteht und das sich so liest, als hätten schon Urgroßmütter daraus gekocht (was ja nicht schlecht ist). Und dann das hier: Die neue Bayrische Küche, eine moderne Variante – so modern, dass das „e“ hinter dem „y“ fehlt, was mich immer irre macht, auch wenn zum Beispiel Lion Feuchtwanger das auch gemacht hat, aber das ist Feuchtwanger, der darf das. Was ich sagen wollte: Mein erstes Rezept aus dem zweiten Buch waren Semmelknödel, die ganz hervorragend geschmeckt haben, auch wenn meine Wickeltechnik noch zu wünschen übrig ließ. Mein zweites Rezept daraus waren die folgenden Gnocchi, die ich etwas verändert habe.

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Ich glaube, die Menge reicht für zwei bis drei Personen als kleine Hauptspeise. Ich habe alles halbiert und noch Spargel dazu gemacht, danach war ich sehr satt.

180 g Weißbrot grob würfeln und in der Küchenmaschine fein zerhacken. In meiner Münchner Küche* gibt es keine Küchenmaschine, aber ich habe festgestellt, dass man auch mit dem Pürierstab aus grob gehackten Brotwürfeln Brösel machen kann, ich Fuchs.

Zum Brot
2–3 Eier,
160 g Quark und
30 g geriebenen Parmesan geben und alles vermischen. Mit
Salz und
Pfeffer würzen.

Das Buch wollte dann 40 g Petersilie, fein gehackt und kurz blanchiert, dazugeben. Ich habe stattdessen ein Töpfchen frische Kresse, fein gehackt, aber unblanchiert, in den Teig gegeben.

Aus dem Teig mit bemehlten Händen (ging bei mir auch so) kleine Bällchen formen. Also kleiner als die, die ich fürs Foto gemacht habe, wobei da auch die Perspektive ein bisschen fies ist. Das Buch wollte irgendwas mit Teelöffeln abstechen, aber so einen Firlefanz mache ich nicht. Wozu hab ich denn Hände.

Einen großen Topf mit Wasser zum Kochen bringen, ordentlich salzen und die Gnocchi ungefähr fünf Minuten leicht sprudelnd ziehen lassen. Mit einer Schöpfkelle herausnehmen, kurz in einer Pfanne mit Butter schwenken und mit Parmesanspänen servieren.

Bei mir gab’s noch grünen Spargel dazu, den ich mit zwei Knoblauchzehen und ordentlich Meersalz angebraten und zum Schluss mit ein bisschen Zitronensaft abgelöscht habe.

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* Ursprünglich stand hier „Münchner Dritte-Welt-Küche“. Das sollte eine scherzhafte Anspielung darauf sein, dass ich hier deutlich weniger Gerätschaften, Geschirr und Arbeitsfläche zur Verfügung habe als in unserer Hamburger Küche, die aus zwei zusammengeworfenen Haushalten plus tollen neuen Dingen besteht. Ob der Scherz gelungen war, überlasse ich euch, aber an dem Begriff „Dritte Welt“ hatte meine Leserin Melanie etwas auszusetzen – und das zu Recht. Wieder was gelernt. Danke für den Hinweis.

Warum hier zwei Wochen nichts los war

Mich hatte ein Referat im Griff.

In meinem Kunstgeschichtskurs über bayerische Klöster seit den Karolingern wurden nicht wie sonst in der ersten Semesterwoche die Referate verteilt, sondern erst in der zweiten Sitzung. Und da Frau Naseweis ja unbedingt das Mittelalter wollte, wurde ihr Referatwunsch entsprechend quittiert: „Gut, dann sind Sie in zwei Wochen die erste.“ Ächz.

Zwei Wochen hört sich nach viel Zeit an (jedenfalls war halb Twitter dieser Meinung), aber ich habe in den letzten Semestern festgestellt, dass ich mit mindestens drei Wochen am besten arbeite. In der ersten Woche lese ich kreuz und quer alles, was mir unter die Finger kommt, am liebsten Aufsätze, denn die sind kürzer als Bücher und schon sehr speziell, was es mir erleichtert, eine ebenso spezielle Fragestellung zu entwickeln, mit der ich mich im Referat beschäftigen möchte. Außerdem dient die erste Woche dazu, in der Unibibliothek und der Stabi alles zu bestellen, was ich klicken kann und dann drei bis fünf Tage darauf zu warten, dass die Bücher in meinem Abholfach liegen.

In der zweiten Woche, in der ich so gut wie alles Material habe, das ich brauche, lese ich gründlicher bzw. suche gezielter nach Antworten auf die Frage, die ich hoffentlich inzwischen formuliert habe. Meist finde ich in Fußnoten noch weitere Literatur, in die ich mal reingucken will, und da ich ja noch über eine Woche Zeit bis zum Referat habe, klappt das meistens auch.

In der dritten Woche steht mein Referat schon ziemlich. Ich halte es mir selbst einmal, wobei ich grundsätzlich merke, was geht und was nicht: Wo muss ich Inhalte vorziehen oder zurückstellen, damit mir meine ZuhörerInnen folgen können, wo brauche ich ein Bild, wo nicht und was muss ich kürzen, damit ich nicht länger als die geforderten 20 Minuten werde. Ich musste bis jetzt immer kürzen: Wo ich am ersten Tag denke, keine Ahnung, wie ich jemals die Zeit rumkriegen soll, habe ich schon nach wenigen Tagen meist genug, um eine Stunde zu reden.

Wenn das Referat steht, bastele ich die Präsentation dazu. In Kunstgeschichte wollen wir immer Bilder sehen, in Geschichte war das bisher noch nicht nötig, aber das ändert sich vermutlich nächste Woche, denn da steht lustigerweise schon das nächste Referat an, weswegen es hier wahrscheinlich nach diesem Eintrag wieder ruhiger wird. Nach der Präsentation kommt noch das Handout für die KommilitonInnen, das quasi aus meinem Referat besteht, das ich auf Stichpunkte runterkürze und mit einer kleinen Literaturliste versehe.

Was ich an drei Wochen Zeit auch schätze, ist die Möglichkeit, zwischendurch einen Tag alles liegenlassen zu können. Ich mag es sehr gerne, den Kopf alleine weiterarbeiten zu lassen, während ich mich um andere Dinge kümmere, um dann nach einem Tag Pause frisch auf alles draufzugucken. Die drei Wochen geben mir auch einen kleinen Puffer, falls einer der hirntoten Tage kommt, an denen nichts geht. Das kenne ich schon von der Arbeit: Es gibt einfach Tage, an denen weißt du, dass du jeden Satz, den du jetzt gerade schreibst, morgen wieder löschst, weil er fürchterlich ist. Das beunruhigt mich nicht mehr so wie früher, weil ich weiß, dass das nur eine Phase ist. Diese Ruhe habe ich an der Uni aber noch nicht, weil ich mich da um lauter Themen kümmere, um die ich mich vorher noch nie gekümmert habe. In der Werbung, gerade wenn es um Autokataloge geht, weiß ich, was auf mich zukommt. In meinen Referaten weiß ich das nicht, da finde ich dauernd neue Fakten und Daten und lustige Einzelheiten, die ich gestern noch nicht wusste und die manchmal meine schöne These ruinieren, weswegen ich noch mal neu rangehen muss. Und dann ist es praktisch, wenn man drei Wochen Zeit hat.

Zu guter Letzt bietet mir diese Zeit auch die Möglichkeit, über den Tellerrand wegzugucken: Ich befasse mich nicht nur mit meinem speziellen Thema, sondern schaue mir auch das Umfeld an. Bei Hans Memling also: Was hat er von seinem (vermuteten) Lehrmeister Rogier van der Weyden mitgekriegt und wie malten die Italiener zu seiner Zeit? Bei Archipenko: Wie sah die Kunstszene in Paris und Berlin in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts aus, was machten Picasso, Brancusi und Gris gerade? Und bei den German Sales: Wie sehen andere Datenbanken aus, was Inhalte und Funktionalität angeht? Ich sitze dann vorne nicht wie ein Fachidiot, sondern kann einschätzen, wo sich mein Thema einordnet.

Das ging dieses Mal alles nicht. Zusätzlich lag der 1. Mai in meiner Vorbereitungszeit, an dem alle Bibliotheken geschlossen haben, und von den wichtigen Büchern konnte ich mir gerade eins ausleihen, alle anderen standen im Historicum oder meiner geliebten KuGi-Bib, was mir aber am Feiertag so gar nichts brachte. Netterweise war ausgerechnet der 1. Mai der Tag, an dem mein Kopf überhaupt keine Lust hatte, weswegen das nicht weiter schlimm war. Trotzdem war es wieder ein Tag weniger, und ich war eh schon nervös genug, denn übermäßig viel Literatur hatte ich nicht gefunden, vor allem kaum wirklich neue, was der Dozent explizit gefordert hatte: „Nichts, was älter ist als zehn Jahre.“

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(Grundrissrekonstruktion der ersten Klosterkirche. Quelle: Dannheimer, Hermann: Frauenwörth. Archäologische Bausteine zur Geschichte des Klosters auf der Fraueninsel im Chiemsee, München 2005, S. 40.)

Mein Thema war das Kloster Frauenwörth auf Frauenchiemsee. Die Ansage: „Was wissen wir eigentlich über Torhalle und Kirche?“ Ich suchte im OPAC also brav nach dem Kloster, fand eine Aufsatzsammlung von 2003 und entschied, die geht gerade noch, sowie einen Ausgrabungsbericht von 2005. Der brachte mich zu einem Grabungsbericht von 1966, und zusätzlich fand ich Rezensionen zu diesen Berichten, die die wissenschaftliche Diskussion der letzten 50 Jahre in Ansätzen nachzeichneten. Die Berichte befassten sich aber nicht nur mit Torhalle und Kirche, sondern auch mit den Klostergebäuden, dem Campanile, dem Friedhof und einzelnen Details wie den Bildprogrammen in der Kirche, einer Kapelle in der Torhalle und dem Kirchenportal mit seinem Tympanon und dem Türzieher. Ich hatte also einen Berg an Zeug und fand blöderweise immer mehr Zeug, denn die eben angesprochenen wissenschaftlichen Diskussionen wollte ich gerne selbst nachvollziehen. Das heißt, ich verließ mich nicht auf einen Halbsatz in einer Rezension, sondern suchte die Originalquelle. Deswegen verfranste ich mich langsam in der Stofffülle – was genau an der Torhalle und der Kirche wollte ich eigentlich besprechen? Die Architektur? Die Ausgrabungen? Die Bildprogramme?

Am Wochenende vor dem Referat war ich kurz davor, das Ding abzusagen, weil ich immer noch keinen roten Faden hatte, immer noch keine wirkliche Frage, aber dafür immer mehr Daten, Fakten und Namen, die sich in meinem Kopf gefühlt zu nasser Watte knüllten, ohne eine Chance für mich, irgendetwas fassen zu können. Ich erzählte mir meine Stoffsammlung selber, um so ein Ziel zu finden, fand es zwar nicht, merkte aber, dass ich mal wieder viel zu viel hatte und brach nach 35 Minuten Reden ab. Die Bildprogramme flogen raus, aber mehr wusste ich nicht. Erst beim Einschlafen kam der rettende Gedanke, der mir heute so logisch erscheint, dass ich mich frage, wieso ich nicht früher draufgekommen bin: Ich vergleiche die beiden Grabungsergebnisse und ihre Rezensionen und erzähle ganz simpel nach, einmal für die Kirche, einmal für die Torhalle, welcher Wissenschaftler wann was gesagt hat und wie er es begründet. Also: Wissenschaftler A findet ein altes Fundament unter der bisher als ältesten Kirche angenommenen, datiert es auf dann und dann und glaubt, es könnte eine Saalkirche gewesen sein. Wissenschaftler B glaubt, es könnte eine dreischiffige Basilika gewesen sein und begründet das so. Wissenschaftler C sagt, alles Quatsch, Jungs, Saalkirche it is und zwar deswegen. Genauso mit der Torhalle: „Der Putz ist von dann und dann.“ „Ja, aber der Holzfußboden ist älter.“ „Schnickschnack, Fußboden, ich hab hier einen Holzspan im nachweisbar ältesten Kalkmörtelestrich und der ist noch älter, ätsch!“

Damit konnte ich endlich mal wieder beruhigt schlafen, kürzte am Dienstag meinen Textwust auf eine anständige Menge runter und bereitete gleichzeitig die Präsentation vor. Im Laufe meiner Stoffsammlung hatte ich mir immer brav aufgeschrieben, wo welcher Grundriss und wo welches Diagramm zu finden war, um es schnell einscannen zu können. Das hatte ich Montag schon gemacht – viel zu viel gescannt, aber egal, das hatte ich jetzt Dienstag alles griffbereit und konnte es gemütlich in Keynote ziehen. Dienstag abend nahm ich mir frei, um am Mittwoch, nach der üblichen Nacht-zum-drüber-Schlafen, aus dem Referat das Handout zu erstellen. Dafür brauchte ich bis 22 Uhr – ich hatte ja auch noch Uni und Hausaufgaben –, hielt mir dann quasi zum ersten und einzigen Mal das Referat mit der Präsentation zusammen und ging gefühlt so unvorbereitet wie nie ins Bettchen.

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(Portal mit Tympanon der Klosterkirche Frauenwörth. Quelle: Brugger, Walter/Weitlauff, Manfred (Hrsg.): Kloster Frauenchiemsee 782–2003. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer altbayerischen Benediktinerinnenabtei, Weißenhorn 2003, S. 69.)

Am Donnerstag saß ich ab acht in der Uni, konnte da also auch nicht mehr machen als in jeder Pause zwischen den Seminaren noch mal meine Notizen zu überfliegen, wenn ich nicht gerade mit Gebäude- bzw. Raumwechsel oder Jogurt essen beschäftigt war. Um 14 Uhr war ich dann dran – dachte ich jedenfalls. Aber eine Kommilitonin begann vor mir: Ihr Thema war St. Emmeram in Regensburg, das weitaus wichtigere Kloster als mein kleines, schnuffiges Frauenwörth, an das ich ein bisschen mein Herz verloren habe. Sie begann, ohne ein Handout auszuteilen, was mich etwas wunderte, aber ich wollte auch nicht danach fragen. Das hatte ich auch schon öfter gesehen: Referentinnen, die so nervös waren, dass ihnen erst nach ihrem Referat einfiel, dass sie ja noch ein Zettelchen für uns hatten. Also sagte ich nichts, sondern hörte ihr zu, wenn auch etwas angestrengt, weil ich keinen roten Faden fand. Der Dozent anscheinend auch nicht, denn nach fünf Minuten stellte er die Killerfrage: „Geht das so weiter?“ Der Kurs zuckte wahrscheinlich ähnlich fies innerlich zusammen wie ich, keine Ahnung, wir saßen nur lämmergleich da und guckten starr nach vorne, wo die Referentin sich ihr eigenes Grab schaufelte, indem sie auf die Frage, welche Literatur sie denn benutzt habe, antwortete: „Ich hab ein paar Kirchenführer gelesen.“

Daraufhin wurde die Atmosphäre noch mal ungemütlicher, ich verabschiedete mich innerlich von einer guten Note, ging aber nach einer etwas lauteren Ansprache des Dozenten an den Kurs nach vorne und begann, mein Macbook mit dem Beamer zu verbinden, was meist nie auf Anhieb klappt. Währenddessen fragte eine Kommilitonin, wie sich der Dozent denn ein gutes Referat vorstellte; die Antwort habe ich nicht mitgekriegt, ich befand mich in den Systemeinstellungen und betete, dass die Beamergötter mich heute bitte liebhaben mögen, was sie taten: Alles ging, ich teilte mein Handout aus und hielt mein Referat, von dem ich bis eine Sekunde nach dem „Danke für eure Aufmerksamkeit“ nicht wusste, ob es totaler Quatsch war. War es anscheinend nicht, denn nachdem ich fertig war, drehte sich der Dozent zu der Kommilitonin von vorhin um und meinte: „Um Ihre Frage noch mal zu beantworten: So stelle ich mir ein gutes Referat vor.“

Ich war äußerlich natürlich professionell unbeeindruckt, aber eigentlich war ich Beckerfaust.

referat1

referat2

Gelernt: Ich kann anscheinend in zwei Wochen ein ziemlich gutes Referat hinkriegen. Dafür komme ich aber nicht mehr zum Bloggen, zu Museumsbesuchen oder zum entspannten Biergartensitzen. Daher bleibe ich lieber bei meinem Drei-Wochen-Rhythmus. Dann bin ich auch weitaus ausgeglichener und muss vor allem keine Jobs für Geld absagen, was ich letzte Woche in meiner Unizeit das erste Mal getan habe, weil ich meinem Kopf und meinem Zeitplan schlicht kein Platz mehr war.

Und jetzt stürze ich mich wieder ins nächste Referat, dieses Mal über die Gartenlaube. Ich freue mich schon sehr auf das Buch über die Mund- und Kieferheilkunde in dieser Publikation.

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