Milk

Harvey Milk war der erste offen Homosexuelle, der in den USA in ein politisches Amt gewählt wurde: 1978 wurde er nach mehreren gescheiterten Versuchen Mitglied des Board of Supervisors in San Franciso. Dieses Amt hatte er nicht einmal ein Jahr inne, denn im November 1978 wurden er und der Bürgermeister von San Francisco von einem weiteren Boardmitglied erschossen.

Milk beleuchtet fast ausschließlich die Zeit zwischen 1972 und 1978, in der sich Harvey Milk politisch engagierte. Der Film zeigt seine Kampagnen, seine Mitstreiter und wenigen Mitstreiterinnen, seine Erfolge und schließlich seinen Tod, erspart sich aber netterweise erhellende Rückblicke in seine Kindheit oder irgendwelche Schlüsselmomente des sexuellen Erwachens. Das macht den Film sehr unmittelbar, weil man sich nicht erst durch dutzende Vignetten quälen muss, sondern sofort einen Menschen vorgesetzt bekommt, den man nun hinnehmen kann oder nicht – ganz wie einem fiktionalen Film, wo man sich auch in den ersten Minuten entscheiden muss, ob man der Hauptfigur folgen will oder nicht. Hier folgt man gerne und begeistert Sean Penn, der einen völlig vergessen lässt, dass man gerade Sean Penn zusieht. Er trägt den Film aber nicht allein, sondern hat unter anderem die wunderbaren James Franco, Emile Hirsch und Diego Luna bei sich, die sich alle sehr uneitel in den Dienst der Geschichte stellen.

Obwohl Milk teilweise mit den klassischen Biopiczutaten arbeitet – z.B. Menschenmengen, vor denen Milk mit dem Megafon steht, während ein wogender Soundtrack im Hintergrund die Gefühle hochjazzt –, kommt einem der Film nie wie ein Abbild einer wahren Geschichte vor, die durch die Hollywoodmangel gedreht wurde. Das liegt auch an den weiteren Bildern, die fernab der Menschenmengen passieren und sehr intim aussehen. So spart sich die Kamera gerade bei den liebevollen Szenen zwischen Milk und seinen Partnern oft die Totale und konzentriert sich auf kleine Ausschnitte, die uns sehr nah an die Beteiligten herankommen lassen. Und während sich die Bewegung, der Aufruhr, der Ärger gerne in wackeligen, schnellen Bildern manifestiert, ruht die Kamera bei Dialogen und Schlüsselszenen klar und fest auf den Beteiligten. Alles zusammen ergibt einen mitreißenden, gefühlvollen und sehr stimmigen Film, der mir sehr, sehr gut gefallen hat.

Slumdog Millionaire

Slumdog Millionaire ist ein Märchen. Ein modernes, das in Indien spielt, in Mumbai und seinen Slums, gleichzeitig in einem hochmodernen TV-Studio, in dem die indische Version von Wer wird Millionär? aufgezeichnet wird und außerdem noch auf einer Polizeistation, wo zwei Polizisten viele unangenehme Fragen an einen jungen Mann haben. Der Kandidat der Quizshow und der Verhörte sind ein- und derselbe: Jamal, dessen Lebensgeschichte erzählt wird, indem er sich durch die Fragen von Millionär und den Polizisten hangelt, die ihm nachweisen sollen, dass er in der Show betrogen hat. Denn wie kann ein ungebildetes Slumkind bis zur letzten, der 20-Millionen-Rupien-Frage, durchkommen?

Der Film springt nicht nur zwischen den Orten hin und her, sondern auch den Zeiten in Jamals Leben. Jeder Ort und jeder Zeitpunkt erzählen eine weitere Geschichte, von denen einige fürchterlich grausam sind und andere klassische Märchenzutaten: Zwei Menschen treffen sich und wissen bereits als Kinder, dass sie füreinander bestimmt sind. Wir sehen Jamal, seine angebetete Latika und Jamals Bruder Salim, der sich als einziger nicht recht zwischen Gut und Böse entscheiden kann. Die beiden anderen wissen, auf welcher Seite sie stehen, und das ist das Märchenhafte an Slumdog. Man weiß nach fünfzehn Minuten, wie er ausgehen wird, und das tut er dann auch.

Und das ist auch fast das Einzige, was mich ein winziges bisschen gestört hat: dass es so viele Hindernisse gibt, die nach einer ewig langen Exposition in der Kindheit dann plötzlich zackzack im Erwachsenendasein überwunden sind. Dass der Film anfangs grausige Szenen hat mit Kindern, denen das Augenlicht genommen wird und großen Schwenks über die menschenunwürdigen Slums, nur um dann irgendwie im High-Tech-Indien zu landen, wo alles gut wird. Dass alles ein bisschen zu formelhaft daherkommt, auch wenn man dieser Formel eben folgen muss, damit es ein Märchen bleibt. Und wo ich gerade beim Nörgeln bin: Die letzte Szene mit Jamal und Latika, wo er ihr per Kuss zu verstehen gibt, dass ihre Narbe nicht stört, fand ich unglaublich überheblich, und der Dialog zwischen den beiden war völlig überflüssig und sehr ärgerlich geschrieben.

Ich bin etwas hin- und hergerissen von Slumdog Millionaire. Mein Kopf hat mir die ganze Zeit gesagt, der Film ist toll, der hat 1000 Preise gekriegt und alle finden den super, aber mein Bauch hat währenddessen leise rumgegrummelt und sich gefragt, warum den jetzt alle toll finden. Ich mochte den kurzen, rasanten und bunten Einblick in eine mir fremde Kultur, ich mochte die Bilder und Klänge, aber gleichzeitig war ich mir nie so sicher, ob ich jetzt wirklich darüber lachen sollte, wie bitterarme indische Kinder reiche Touristen verarschen, um nicht zu verhungern. Vielleicht hatte ich die politisch-korrekte Schere im Kopf, vielleicht auch die frauenbewegte Nöligkeit, warum sich mal wieder das rehäugige Mädel vom Kerl retten lassen muss, keine Ahnung. Ich habe den Film entspannt bis zum Ende geguckt, aber das Besondere an ihm habe ich nicht gesehen.

Die Daily Show mit Jon Stewart vom 27. April war mal wieder großes Kino: diesmal geht’s um so lustige Sachen wie die Schweinepest („Snoutbreak 09“) und „Mistakes on a plane“: der Tiefflug der Air Force One über New York (Superidee, by the way). Und nach der Werbung ist die französische Finanzministerin Christine Lagard zu Gast. Entspannte 20 Minuten hier.

Lisa Rank hat mit Tine Nowak ein Gespräch zur Tagebuchausstellung geführt, die ich bereits in Frankfurt besucht habe und die noch bis zum 30. August in Berlin zu sehen ist. Darin wird der Text über meinen Opa erwähnt, aber auch die Relevanz, die Tagebüchern bzw. Tagebuchblogs so gerne abgesprochen wird, was ich ganz anders sehe. Nämlich so wie Tine:

„Jedoch sind Tagebuchblogs relevant, weil jeder Mensch durch das Internet die Möglichkeit bekommt individuell auszusieben, was für ihn wichtig ist und was nicht. Jeder kann selber auswählen, was ihn berührt. Relevant ist vielleicht nicht die Masse an Information, jedoch unsere Möglichkeiten, damit umzugehen. Dabei wird es unwichtig, ob diese Information, sei es ein persönlicher Tagebucheintrag oder eine klassische Nachricht, für 500 000 Menschen relevant ist oder nur für mich allein. Denn sie wurde trotzdem publiziert und kann mich persönlich weiterbringen. Das ist das Tolle daran.“

Twitkrit, das beste aller Twitterrezensionsblogs, feiert diese Woche seinen ersten Geburtstag. Zur Feier des Tages durften sich ein paar Gastblogger am Genre der Twitkritik versuchen. Meine zaghafte Fingerübung steht hier und beschäftigt sich mit einem meiner Lieblingstweets von Dentaku/@dentaku.

Bücher 2009, April

Im letzten Jahr hatte ich mir angewöhnt, alle drei Monate ein kleines Update über mein Leseverhalten zu geben. Eigentlich wäre daher erst Ende Juni ein neuer Eintrag fällig, aber da ich von meinen Lesern und Leserinnen zu meinem Geburtstag so reichhaltig mit Büchern bedacht wurde und mir gleichzeitig eine kleine Auszeit von der Arbeit genommen habe (die Festangestellten unter uns nennen es Urlaub), habe ich in den letzten Wochen so dermaßen viel weggelesen, dass ich gar nicht bis Juni warten kann, um euch davon zu erzählen, was es für tolle Bücher da draußen gibt.

James McPherson – Battle Cry of Freedom

Absolute Empfehlung für alle, die sich für den amerikanischen Bürgerkrieg interessieren. Ich habe das Buch hier schon mal lobend erwähnt, als ich es noch nicht durchgelesen hatte. Das habe ich jetzt, und je länger es dauerte, desto mehr hat es mich fasziniert. Der Weg in den Krieg wird sehr nachvollziehbar beschrieben, und der Krieg selbst erschöpft sich nicht in einer Schlachtenerzählung nach der nächsten; stattdessen werden die Kampfhandlungen umrahmt von Beschreibungen der Gesellschaft und der politischen Veränderungen, die der Krieg mit sich brachte. Wie wurde er finanziert? Welche Stellung bzw. Berufe hatten Frauen auf einmal? Wie funktionierte der Transport von Menschen, Tieren, Waffen? Wie unterschiedlich entwickelten sich Nord- und Südstaaten? Und natürlich vor allem: Wie veränderte sich der Umgang mit den Schwarzen – waren sie anfangs „nur“ ein Teil in der großen Summe der Kriegsgründe, wurde die Position der Nordstaaten bzw. vor allem Abraham Lincolns im Laufe des Krieges immer entschiedener: Die Sklaverei musste abgeschafft werden, und daher hatten Friedensverhandlungen, die dieses Thema ausklammern wollten, nie eine Chance.

Was mir besonders gefallen hat: Pherson hält sich nicht krampfhaft an eine Zeitleiste, sondern nimmt sich zwischen den einzelnen Schlachten immer ein Thema vor, das gerade wichtig ist (wie eben die Finanzierung oder die steigende Inflation, vor allem im Süden) und beleuchtet es über die Zeit des Krieges hinweg, bevor er zur nächsten Schlacht kommt und danach zu einem weiteren Thema. Auf so gut wie jeder Seite habe ich Neues lernen und Altes vertiefen dürfen. Battle Cry of Freedom zeichnet trotz seiner recht komprimierten Form von 900 Seiten ein für mich sehr ausführliches Bild des Civil War und seiner Begleitumstände und hat mich – auch durch seinen sehr lesbaren und wenig pompös-wissenschaftlichen Tonfall – wirklich begeistert.

Christian Kracht – Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

An einem Nachmittag verschlungen. Ich mochte die fremde Welt, die Kracht entwirft – Lenin bleibt in der Schweiz, etabliert eine sozialistische Republik, und fast 100 Jahre später bekriegt sich Europa immer noch –, ich mochte die vielen Adjektive, die mir nie unpassend erschienen und alle irrealen Welten ganz anfassbar gemacht haben, und ich mochte die zaghaften Botschaften, die in den Nebensätzen durchschimmerten: wie seltsam der Mensch ist, wie seltsam seine Ideologien oder was ihn antreibt, was Heimat definiert und was Nächstenliebe.

Charles Frazier – Cold Mountain

An den Film konnte ich mich nur schemenhaft erinnern, und im Zuge meiner ganzen Bürgerkriegsbegeisterung dachte ich mir, ach, lieste doch mal ein Buch, das in dieser Zeit angesiedelt ist. Gute Sache, denn die verschiedenen Schauplätze des Romans, die Namen der umkämpften Städte oder die der Generäle werde ohne Erklärung auf den Leser losgelassen, und wenn ich nicht vorher das großartige Battle Cry of Freedom gelesen hätte, hätte mich Cold Mountain vielleicht nicht ganz so gefesselt. Das Buch beschreibt zwei Geschichten gleichzeitig: die des Südstaatensoldaten Inman, der aus einem Hospital desertiert und sich auf den Weg nach Hause, nach Cold Mountain macht, um zu seiner geliebten Ada zurückzukehren. Sie ist die Hauptperson der zweiten Geschichte, und in dieser wird ihre Wandlung von der behüteten, aber durchaus eigensinnigen Frau zur Vollblutfarmerin erzählt, die ihr Piano gegen Saatgut tauscht und irgendwann gleichberechtigt Homer liest und wilde Truthähne zielsicher zu Proviant macht. Zum Schluss begegnen sich beide Erzählungen, aber erst, nachdem sie die ländlichen Südstaaten, ihre Bewohner und Sitten zurzeit des Bürgerkriegs sehr beeindruckend und ausführlich beschrieben haben. Cold Mountain hat mir sehr, sehr gut gefallen. (Und ich hatte das Ende allen Ernstes schon wieder vergessen.)

Hergé – Tim im Kongo, Tim in Amerika, Die Zigarren des Pharaos, Der blaue Lotos, Der Arumbaya-Fetisch, Die schwarze Insel, König Ottokars Zepter, Die Krabbe mit den goldenen Scheren, Der geheimnisvolle Stern, Das Geheimnis der Einhorn, Der Schatz Rackhams des Roten, Die sieben Kristallkugeln, Der Sonnentempel, Im Reiche des Schwarzen Goldes, Reiseziel Mond, Schritte auf dem Mond, Der Fall Bienlein, Kohle an Bord, Tim in Tibet, Die Juwelen der Sängerin, Flug 714 nach Sydney, Tim und die Picaros

Mit dem Lesen der Sekundärliteratur im März kam logischerweise die Lust, mal wieder die Primärliteratur zu lesen. Wie seit knapp 30 Jahren immer mal wieder, ungefähr im Zwei- bis Drei-Jahresrhythmus. Meine Lieblinge sind immer noch Der Blaue Lotos, Die Juwelen der Sängerin, Tim in Tibet, die Mond-Bände und Flug 714 nach Sydney.

Peter S. Beagle – A Fine & Private Place

Das Buch stammt aus den 60er Jahren, und dementsprechend klingt die Geschichte bzw. die Art, wie sie erzählt wird, auch ein ganz winziges bisschen verstaubt. Der Inhalt: Rebeck, ein älterer Mann, hat sich aus Furcht vor der Realität auf einen Friedhof geflüchtet und lebt dort seit Jahren in einem Mausoleum. Ein sprechender Rabe versorgt ihn mit Sandwiches, die er aus New Yorker Delis klaut, und ab und zu hat Rebeck sogar menschlichen Kontakt – allerdings mit Menschen, die keine mehr sind, denn sie werden begraben und bleiben noch ein wenig in der Zwischenwelt von Leben und Tod bei ihm, bis sie vergessen haben, was ihr Leben ausmacht und sie endgültig sterben. In dieses beschauliche Tableau bricht eines Tages eine Witwe ein, die Rebeck aus der Reserve lockt, und gleichzeitig stellen zwei Verstorbene Gefühle an sich fest, die sie aus ihrem Leben nicht kannten. A Fine & Private Place erzählt mir manchmal ein bisschen zu viel, wo ich gerne nur Andeutungen gehabt hätte, und es liest sich streckenweise etwas zäh. Aber das Fantastische der Geschichte bleibt dafür noch länger bei einem.

Alan Moore/Kevin O’Neill – The League of Extraordinary Gentlemen, Vol. I

Comic. Aus der cleveren Grundidee, literarische Persönlichkeiten zu einer Art Superheldengang zusammenzuschmeißen (Captain Nemo, Mina Harker, Dr. Jekyll/Mr. Hyde, Allan Quatermain), wird ein bisschen wenig gemacht, aber ich mochte den Zeichenstil sehr, sehr gerne, habe die altertümliche Sprache als spannenden Gegensatz zum modernen Genre empfunden und mich über kleine Scherze wie die Mailadresse des Verlages („electro-magneto address“) sehr amüsiert. Gleich den zweiten Band geordert.

Thomas Glavinic – Das bin doch ich

Thomas Glavinic schreibt über einen Schriftsteller namens Thomas Glavinic, der gefühlt das halbe Buch betrunken ist, imaginär an inneren Blutungen stirbt oder Hodenkrebs vermutet, nervös auf das Erscheinen seines Werks Die Arbeit der Nacht wartet und dabei ständig SMSe von Daniel Kehlmann kriegt, der ihm mitteilt, wie oft sich Die Vermessung der Welt schon verkauft hat. Ohne dem Autor zu nahe treten zu wollen – das liest sich alles wie ein wahnwitzig langer Blogeintrag und ist unglaublich komisch. Grandios. Sofort kaufen. Und dann nochmal kaufen und an nette Menschen verschenken. Und Die Arbeit der Nacht natürlich auch kaufen und verschenken. Aber nur an Leute mit besserem Nervenkostüm als ich. Ich konnte danach nächtelang nicht schlafen und war sehr, sehr froh, nicht alleine zu wohnen.

Frank Miller/Lynn Varley – Ronin

Laut Kerl hat Miller mit diesem Comic den Mangastil in Amerika populär gemacht. Mir egal. Ich fand den sehr spannend, weil er eine alte Samuraigeschichte mit der üblich-depressiven Welt des 21. Jahrhunderts verknüpft hat. Sehr schicke Bilder, sehr viele verschiedene Panels, immer was zu gucken. Ich kann immer noch nicht über Comics schreiben, aber ich bin diesem Medium inzwischen fies verfallen. Was auch daran liegt, dass der Kerl ständig Nachschub aufs Sofa legt, wenn ich grad nicht hingucke und mal wieder was mit Wörtern lesen will. So ohne Bilder so. Aber ich komm hier ja zu nix.

Isabel Kreitz – Ohne Peilung/Ralf lebt

Nach diversen Superhelden und Männerquatsch hab ich mal vorsichtig nachgefragt, ob’s denn auch Frauen gibt, die Comics produzieren, woraufhin mir Herr Kerl Frau Kreitz gegeben hat. Beide Geschichten spielen in Hamburg, was ich sehr lustig fand. Die eine beschäftigt sich mit einem alten Mann, der der Kriegsmarine und ihren U-Booten hinterhertrauert, die andere mit Jugendlichen, die im Kanalsystem unter der Stadt leben. Beide fand ich interessant, hätte mir aber gewünscht, sie wären etwas länger bzw. etwas tiefgründiger gewesen. Aber vielleicht bin ich inzwischen auch schon durch die Fantasiewelten der amerikanischen Comics völlig verdorben.

Colleen McCullough – Tim

Mein guilty pleasure. Lese ich alle zwei, drei Jahre mal, wenn ich was Schnulziges lesen will. Dauert inzwischen auch nur noch vier oder fünf Stunden, dann hab ich das durch, mich kurz ausgeweint und bin mit der Welt wieder versöhnt.

Saša Stanišić – Wie der Soldat das Grammofon repariert

„Eine gute Geschichte, hättest du gesagt, ist wie unsere Drina: nie stilles Rinnsal, sie sickert nicht, ist ist ungestüm und breit, Zuflüsse kommen hinzu, reichern sie an, sie tritt über die Ufer, brodelt und braust, wird hier und da seichter, dann sind das aber Stromschnellen, Ouvertüren zur Tiefe und kein Plätschern. Aber eines können weder die Drina noch die Geschichten: für beide gibt es kein Zurück. Das Wasser kann nicht umkehren und ein anderes Bett wählen, so wie kein Versprechen jetzt doch gehalten wird. Kein Ertrunkener taucht auf und fragt nach einem Handtuch, keine Liebe findet sich doch, kein Trafikant wird gar nicht erst geboren, keine Kugel schießt aus einem Hals zurück ins Gewehr, der Staudamm hält oder hält nicht. Die Drina hat kein Delta.“

Ein wunderbares Buch. Und wenn es nicht so einen blöden Titel hätte, der mich nicht ganz fälschlicherweise, aber dann doch total daneben osteuropäische Folklore vermuten ließ, hätte ich es schon vor zwei Jahren gelesen, als es alle anderen auch gelesen haben. Dann eben jetzt. Zum Glück.

Mark Oliver Everett – Things the Grandchildren Should Know

Everett ist der Sänger der EELS, mit deren Musik ich eher selten was anfangen kann. Trotzdem wollte ich aus was für Gründen auch immer Everetts Autobiografie lesen – und kann sie für depressive Tage durchaus weiterempfehlen. Sein Stil ist angenehm zurückhaltend; so schreibt er über die Veröffentlichung von Electro-Shock Blues – einem Album, mit dem er die vielen Todesfälle in seiner Umgebung verarbeitet hat – nur: „The album came out to much critical acclaim and the shows went well.“ So ungefähr klingt das ganze Buch, er erzählt eine unglaubliche Geschichte nach der anderen und berichtet darüber sehr distanziert, aber nicht unfreundlich. Grandchildren hat mich nicht umgehauen, aber ich habe es gerne gelesen.

Walter Scheib/Andrew Friedmann – White House Chef

Walter Scheib war elf Jahre Chefkoch im Weißen Haus. Er wurde persönlich eingestellt von First Lady Hillary Clinton, die die traditionell französisch gehaltene Küche bei Staatsempfängen ändern und mehr amerikanische Küche zeigen wollte. Sein Buch ist kuschelig und nett, man fühlt sich wie bei einem ausgedehnten Brunch, bei dem alle ihre Lebensgeschichte erzählen und ihre schönsten Anekdoten nochmal rausholen. Zwischen den kleinen, liebevollen Geschichten aus dem Weißen Haus gibt’s ne Menge Rezepte – und immer schimmert durch, wie Scheib seinen Job sah:

„Now, the things we did wouldn’t have been “impossible” in other settings. But when you considered the fact that we were working in cramped quarters, with largely temporary staff, and menus that changed from day to day to suit the occasion – or occasions – at hand, every success was seen as a small miracle, all the more so because we were essentially operating in a museum where the furniture, decorations, artwork, and even at times the plates were valuable and irreplaceable antiques.“

Ben Elton – Chart Throb

Das Buch soll ein Seitenhieb auf die ganzen fies zusammengeschnittenen und auf maximale Tränenmenge ausgerichteten Castingshows sein, scheitert aber an seiner eigenen Zielsetzung. Es mag ja sein, dass die judges bei X-Factor, American Idol u.ä. ausdauernd “You owned that song” oder “You know what? You could go all the way” sagen, aber das wird nicht noch offensichtlicher, indem man das auf jeder zweiten Seite im Buch wiederholt, das sich genau darüber lustig macht. Chart Throb orientiert sich peinlich genau an Leuten wie Simon Cowell und Sharon Osbourne und überzieht diese noch – aber nicht genug, um es wirklich fies werden zu lassen, sondern höchstens skurril. So richtig toll fand ich das Buch nicht, aber die vielen Songtitel, die der blinde Junge in den Mottoshows singen musste und die alle in die Richtung von I can see clearly now gingen, waren dann doch lustig.

Michael Caine – What’s it all about?

Sehr launige Autobiografie von Michael Caine. Kostprobe? Hier der erste Absatz:

„I first started to act at the age of three. We were a very poor family and it was my mother’s idea to have me help out with her many outstanding bills. She wrote the script and directed the action. The cue to begin my performance was a ring at the door bell. Grasping my small hand, my mother rushed down the three flights of stairs from our small flat and hid behind the front door as I opened it. The unsuspecting third member of the cast – the rent collector – was standing there as I delivered my first lines: ‘Mummy’s out,’ I said, and slammed the door in his face.“

In dem Stil geht es weiter, jeder Absatz hat eine Pointe, jeder Satz etwas zu erzählen. Ich muss gestehen, ich kenne nicht viele von Caines Filmen, gerade seine Frühwerke nicht, aber das mindert das Lesevergnügen überhaupt nicht. Besonders gefallen hat mir seine Einstellung seiner Arbeit gegenüber, die er sehr ernst nimmt und die er schon sehr früh als seine Berufung erkannt hat, von der er aber gleichzeitig weiß, dass sie manchmal auch „nur“ seine Miete zahlt. So wechseln sich Erzählungen über die Oscarverleihung ab mit einem ehrlichen „Und dann hab ich wieder ne Gurke gedreht, weil ich mir ein Haus an der Themse kaufen wollte“. Ein bisschen anstrengend sind seine Ansichten zur Frauenbewegung, die man vorsichtig als „altmodisch“ bezeichnen könnte, und seine Panik vor Homosexualität, die ihm bei seinen Kollegen nichts auszumachen scheint, ihn aber nicht davor bewahrt, sich vor seinem ersten man-on-man-Kuss mit Christopher Reeve in Deathtrap die Hucke vollzusaufen. Das Buch ist bereits 1992 erschienen, also nicht mehr ganz aktuell, aber es hat nichts von seinem Charme verloren. (Danke an Kiki für die Inspiration.)

Missbrauch missbrauchen von Pandoras Kekzdose. Sehr guter Text mit sehr guten weiterführenden Links zum Thema Zensursula und dem ganzen Rotz, der mir allmählich immer unsympathischer wird.

Aus „unverdächtig“ wird „noch nicht verdächtig“

Da wäre die Geschichte von der dänischen Sperrliste gegen Kinderpornografie, die hart kritisiert wurde, weil sie auch zahlreiche Internetseiten enthält, die KEINE Strafbaren Inhalte haben. Da wäre die Geschichte von Wikileak, die um eben dies zu beweisen diese Sperrliste veröffentlicht haben, woraufhin beim deutschen Seitenbetreiber eine Hausdurchsuchung vorgenommen wurde. Und da wäre die Geschichte von dem Blogger, der auf einen Blog verlinkte, der wiederum auf besagten Wikileakartikel verlinkte, und bei dem auch plötzlich die Polizei vor der Tür stand.

Es zeigt, dass der normale Durchschnittsbürger sehr wohl davon betroffen ist. Dass die Horrorstorys von mutmaßlichen und im Endeffekt dann doch unschuldigen „Terroristen“, die monatelang von der staatlichen Exekutive malträtiert wurden, quasi jedem passieren können. Ob das die unvorsichtige Verlinkung eines Blogs war, das zufällige Öffnen einer überwachten Website, das klicken auf Links, die via tinyurl o.ä. unkenntlich gemacht wurden. Es gibt unzählige Wege, ins Fadenkreuz zu geraten. Die Angst, ein weiterer Andrei Holm oder Khaled El Masri zu werden, ist keine Fiktion mehr, kein schlechter Film, den man einfach abschaltet.

Doch auch wenn das nur Einzelfälle sind, wenn es sich dabei um Ausnahmen, Missverständnisse oder nur paranoiden Scheiß handelt. Es bleibt dennoch die Frage, inwiefern wir sicher sein können, dass der paranoide Scheiß auch wirklich paranoider Scheiß bleibt.“

Eventuell ein reicher Erbonkel/eine reiche Erbtante in den USA? Einwandererdaten von Ellis Island durchsuchen: hier. Via dem Blindtextblog sein Gezwitscher.

Ich bin noch nie mit Ryanair geflogen. Und jetzt mach ich’s auch nicht mehr. #Arschlöcher

Obama’s 100 Days: Behind-The-Scenes Photos. Via that obscure object.

„i’m collecting pictures of handsome men eating breakfast.“

(Danke, Elke.)

There Will Be Blood II: No Seriously, There Will Be So Much.

Der gemeinnützige Verein Chibodia, den ich hier bereits schon mal erwähnt habe, veranstaltet am 19. Juni in Gießen einen Bandwettbewerb bzw. ein Benefizkonzert:

„Ab sofort haben junge Bands die Möglichkeit, sich für den Contest zu bewerben und so ihr Talent unter Beweis zu stellen. Die fünf besten Bands werden dann am 19. Juni im MUK um den ersten Platz kämpfen. Es winken attraktive Gewinne; eine fünftägige Musikproduktion im Bäng Studio in Lollar ist der erste Preis, weitere Gewinne sind eine Produktion eines Band-Video-Portraits bei Rolf Eckel, eine professionelle Fotoproduktion, ein weiterer Konzertauftritt im MUK und ein Miettransporter für ein Wochenende.“

Mehr über den Wettbewerb, wie man teilnehmen kann und was das alles mit Kindern in Kambodscha zu tun hat: hier.

Wahlomat zur Europawahl #Zensursula

Danke an Spreeblick für die gestrige Aktion, bei der sich in einer interaktiven Karte jeder eintragen konnte, der den Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Kinderpornografie nicht gutheißt. Laut Twitter waren das gestern abend 5.667 Menschen; weitere Zahlen will Spreeblick heute noch nachlegen. (Edit: erste Zahlen hier.)

Mein SPD-Parteibuch habe ich bereits vor einiger Zeit zurückgegeben, und wenn ich sowas wie die folgenden Sätze lese, weiß ich auch, warum:

„Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, die zunächst schwere verfassungsrechtliche Bedenken gegen die vertragliche Lösung ins Feld geführt hatte, räumte ein, dass mit dem Vorhaben Kommunikationsströme im Internet im großen Stil kontrolliert werden müssten. Aber es gehe um einen so hohen Wert, dass die Verhältnismäßigkeit der Eingriffe gewahrt bleibe.“

Kann ich das „hohe Gut“ nochmal genauer definiert kriegen, bitte? Bis jetzt bin ich davon ausgegangen, dass das Grundgesetz eben dieses hohe Gut schützt. Zum Beispiel mit Artikel 5:

„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Auf der SPD-Homepage finde ich nicht mal eine Pressemitteilung zu diesem Thema. Ist wahrscheinlich auch nicht so wichtig wie der kommende Besuch von Hubertus Heil in Walsrode oder die neue Webpräsenz von Martin Schulz.

Auch die CDU beschäftigt sich laut ihrer Pressemitteilungen lieber mit Kunstkäse und der Volkszählung 2011 – auf die wir uns natürlich genauso freuen wie die Christdemokraten. Vielleicht kann man die ja auch per Internet durchführen, aber da würde ich mir eventuell noch überwachter vorkommen als mit dem klassischen Fragebogen. Ist bestimmt bloß Paranoia, sorry.

Die Linkspartei hat zu dem Thema auch keine Meinung, aber die Armen haben ja noch nicht mal ein Parteiprogramm. Die FDP bietet ein paar Worthülsen, die nicht ja und nicht nein sagen, eher: Ich will mich da noch nicht festlegen. Passt prima ins Parteiprofil.

Bündnis 90/Die Grünen sind mir da schon sympathischer:

„”Anstatt endlich konsequent und tatsächlich wirkungsvoll gegen Kinderpornografie vorzugehen, betritt die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf das Feld der Symbolpolitik. Dadurch wird kein einziger Inhalt entfernt, kein Missbrauch verhindert. Es wird lediglich ein Signal des politischen Willens gezeigt, das aber ins Leere läuft. Dieses Vorgehen hilft Missbrauchsopfern herzlich wenig.

Die Legitimation zur Sperrung von Internetseiten soll über eine Änderung des Telemediengesetzes erfolgen, was rechtlich höchst umstritten ist. Es stattet das Bundeskriminalamt mit Kompetenzen aus, die über ihre eigentlichen Aufgaben als Zentralstelle hinausgehen. Dies lehnen wir ab. Dass jetzt auch noch Informationen, die über die Stopp-Seite generiert werden, zu Ermittlungszwecken an das Bundeskriminalamt weitergegeben werden dürfen, ist im Sinne des Datenschutzes nicht hinnehmbar.“

Am besten auf den Punkt bringt das Thema meiner Meinung nach Die Zeit:

„Ein Gedankenspiel: Ersetzen wir Internet durch Telefon und Kinderpornografie durch einen beliebigen strafrechtlich relevanten Begriff wie Drogenhandel. Mit einem solchen Gesetz dürfte das BKA und nur das BKA entscheiden, wessen Telefon abgeklemmt wird, es dürfte jede Telefonnummer protokollieren, die versucht, den gesperrten Anschluss anzurufen, und es dürfte gegen die Anrufer mit all seinen technischen und personellen Mitteln vorgehen. Und das alles, ohne dass es irgendeine demokratische Kontrolle fürchten müsste.

Niemand könnte bei diesem Vorgehen nachvollziehen, warum ein Anschluss gesperrt wurde und welche Anrufer warum beobachtet, abgehört und durchsucht werden. Niemand dürfte fragen, ob wirklich Verbrecher gejagt würden, oder ob nicht ein Polizist illegalerweise seine Freundin und deren Geliebten überwacht – was schon geschehen ist. (…)

Kein Richter überprüft die Sperrlisten, keine parlamentarische Kontrollkommission, kein Datenschutzbeauftragter. Das BKA ist Ermittler, Ankläger und Richter in einer Person! Bei der Telefonüberwachung muss ein Richter vorher prüfen, ob sie gerechtfertigt ist. Nicht erst hinterher und nur, falls sich jemand beschwerte.

In Grundrechte einzugreifen, kann notwendig sein. Aber jede Kontrolle zu verhindern, ob ein solcher Eingriff überhaupt gerechtfertigt ist, ist undemokratisch. Immerhin bedeutet Demokratie, Gewalten zu teilen. Keine staatliche Gewalt darf agieren, ohne dass eine andere eingreifen und überwachen kann. Keine Allmacht, auch nicht für das BKA!“

(Links zu Heise und der Zeit via Rivva, das im Moment eine schöne Sammlung von weiteren Artikeln zum Thema bündelt.)

Der Flix bringt die Saison grandios auf den Punkt.